Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. tätlicher Angriff. Wurf mit einer Flasche. Vorsatz. Vollbeweis. Beweiserleichterung nur bei widerspruchsfreier Aussage aus eigenem Wissen. richterliche Beweiswürdigung. höherer Beweiswert einer zeitnäheren Aussage gegenüber dem behandelnden Arzt. sozialgerichtliches Verfahren. kein Grundurteil bei unzulässigen Leistungsanträgen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unzulässige Leistungsanträge können nicht den Erlass eines Grundurteils rechtfertigen.

2. Frühe Angaben anlässlich ärztlicher Behandlungen haben deswegen einen hohen Beweiswert, weil es dem Opfer insoweit um die richtige therapeutische Intervention, nicht um Sozialleistungsansprüche geht.

3. Bei einer behaupteten Verletzung durch einen Schlag mit der Flasche muss im Wege des Vollbeweises festgestellt werden können, dass eine solche Tätlichkeit vorsätzlich verübt wurde.

 

Orientierungssatz

Die Anwendbarkeit des abgesenkten Beweismaßstabs nach § 15 KOVVfG setzt voraus, dass der Antragsteller selbst Angaben zu den entscheidungserheblichen Fragen aus eigenem Wissen macht und widerspruchsfrei vorträgt (so auch LSG Stuttgart vom 21.4.2015 - L 6 VG 2096/13 und LSG Essen vom 20.12.2006 - L 10 VG 17/02).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 12.01.2017; Aktenzeichen B 9 V 58/16 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts F. vom 5. August 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Das beklagte Land wendet sich mit seiner Berufung gegen ein Grundurteil über die Gewährung einer Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der 1978 im Kosovo (ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien) geborene Kläger lebt seit Oktober 2002 in Deutschland. Er hatte zunächst einen Aufenthaltstitel nach § 30 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) als nachgezogener Ehegatte einer seit längerem in Deutschland wohnhaften Ausländerin inne. Noch vor der hier angeschuldigten Tat am 18. Dezember 2006 hatte er sich von seiner Ehefrau getrennt und daraufhin, weil die Ehe im Bundesgebiet länger als drei Jahre angedauert hatte, eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis nach § 33 Abs. 1 AufenthG. Diese war zunächst bis zum 19. November 2008 befristet (Auskunft der Ausländerbehörde des Landratsamts L. vom 23. November 2007). Nach der hier angeschuldigten Tat, Anfang 2012, änderte er seinen Nachnamen in “J.„ (Mädchenname seiner Mutter) und heiratete am 24. August 2012 eine andere kosovarische Staatsangehörige, mit der er ebenfalls im Bundesgebiet lebt. Der Kläger war in Deutschland in verschiedenen Firmen als ungelernter Maurer beschäftigt. Er war bereits zur Zeit der hier angeschuldigten Tat seinerseits durch verschiedene Gewaltdelikte in Erscheinung getreten (Protokoll der Polizeidirektion L. vom 26. Februar 2007), das Bundeszentralregister weist aber aktuell keine Eintragungen unter einem seiner Namen auf (Auskunft des Bundesamts für Justiz vom 11. Dezember 2015). Die zuletzt innegehabte Berufstätigkeit als Sandstrahler verlor der Kläger Anfang 2014, seitdem bezieht er Leistungen der Arbeitsförderung und nunmehr der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Nach dem späteren Vorbringen des Klägers kam es am 18. Dezember 2006 zwischen 4.00 Uhr und 5.00 Uhr in dem kosovo-albanischen Vereinsheim “P.„, dessen Vereinsvorsitzende der angebliche Schädiger I. B. war, zu einer Auseinandersetzung. Dieser Vorfall selbst und sein Hergang im Einzelnen sind zwischen den Beteiligten streitig. Aus dem späteren Ermittlungsverfahren gegen B. ist bekannt, dass es am 18. Dezember 2006 keinen Polizeieinsatz in dem Vereinsheim gegeben hat. Ferner war damals kein Rettungsdienst bzw. Notarzt vor Ort (vgl. Ermittlungsergebnisse des Polizeipostens F.-W. vom 17. Februar 2016).

Der Kläger wurde am 18. Dezember 2006 von der Klinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universitätsklinik F. aufgenommen. Auf welche Weise er die Klinik erreicht hatte, konnte während dieses Verfahrens nicht aufgeklärt werden. Nach den Angaben in dem endgültigen Entlassungsbericht des Klinikums vom 19. Januar 2007 gab der Kläger bei Aufnahme an, er sei nach einem massiven Alkoholkonsum zuhause die Treppe hinuntergestürzt. Anamnestisch lag eine Bewusstlosigkeit vor, klinisch bestand ein Monokel-Hämatom rechts sowie eine tastbare Knochenstufe im Bereich der Stirnhöhle, der Nasenwurzel und des rechten Orbita-Daches. Es wurden die Diagnosen einer Commotio cerebri, einer Stirnbein-Fraktur im mittleren Drittel sowie einer Fraktur des Naso Etemedioal-Komplexes gestellt. Der Kläger wurde am 21. Dezember 2006 operiert und bis zum 26. Dezember 2006 stationär behandelt. Ein erneuter stationärer Aufnahme vom 28. Januar bis zum 1. Februar 2008 diente der Entfernung des Osteosynthese-Materials. Die Stirnhöhlen-Vorderwand war nach der Metallentfernung gut konsolidiert. Danach war der Kläger kontinuierlich arbeitsunfähig, klagte über Kopfschmerzen, Schwindel und allgemeine Belastbarkeitsminderung, so dass er am 22. A...

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