Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeldanspruch. ärztliches Beschäftigungsverbot nach MuSchG. keine Arbeitsunfähigkeit. Fiktion der Verfügbarkeit. Gesetzeslücke. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

Besteht bei einer arbeitslosen Schwangeren trotz Beschäftigungsverbot keine Arbeitsunfähigkeit ist die für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erforderliche Verfügbarkeit zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Lücke (Art 6 Abs 4 GG) zu fingieren (so auch LSG Darmstadt vom 20.8.2007 - L 9 AL 35/04 = Streit 2008, 182).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 22.02.2012; Aktenzeichen B 11 AL 26/10 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. August 2009 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Anspruchsberechtigung der Klägerin zum Bezug von Arbeitslosengeld (Alg) streitig.

Die 1976 geborene Klägerin war ab 15. September 2004 bis zuletzt 31. Mai 2008 befristet beschäftigt bei der KSD GmbH als Altenpflegehelferin. Bei der Untersuchung am 21. Januar 2008 wurde bei der Klägerin eine Schwangerschaft in der zehnten Schwangerschaftswoche festgestellt. Der mutmaßliche Tag der Entbindung wurde auf den 20. August 2008 festgesetzt und der letzte Arbeitstag vor Mutterschutzbeginn auf den 8. Juli 2008 (siehe Schwangerschaftsbescheinigung der Dr. He. vom 21. Januar 2008). Unter dem 13. März 2008 sprach Dr. He. gemäß § 3 Abs. 1 Mutterschutzgesetz (MuSchG) mit Wirkung vom 13. März 2008 ein Beschäftigungsverbot aus, da Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet sei (siehe Bescheinigung vom 13. März 2008).

Am 8. Mai 2008 meldete sich die Klägerin mit Wirkung zum 1. Juni 2008 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Mit Bescheid vom 10. Juni 2008 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Alg mit der Begründung ab, dass die Klägerin nicht arbeitslos sei. Sie könne eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung nicht aufnehmen. Am 16. Juni 2008 erhob die Klägerin unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des LSG Hessen vom 20. August 2007, L 9 AL 35/04, Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2.Juli 2008 als unbegründet zurückwies.

Am 14. Juli 2008 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt. Es habe keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, sondern ein Beschäftigungsverbot allein aus der Einstufung der Schwangerschaft als Risikoschwangerschaft vorgelegen. Zwar habe sie damit den Vermittlungsbemühungen der Beklagten nicht zur Verfügung gestanden; gleichwohl sei der Klägerin Alg zu gewähren, da ansonsten schwangere Arbeitslose verfassungswidrig benachteiligt würden. Mit Beschluss vom 5. November 2008 hat das SG die Krankenkasse der Klägerin beigeladen. Das SG hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Dr. He. als sachverständige Zeugin schriftlich einvernommen. In ihrer Stellungnahme vom 18. November 2008 gab sie an, dass es sich nach einer Invitrofertilisation (IVF) um eine Risiko-Zwillingsschwangerschaft gehandelt habe. Aufgrund eines immer wieder auftretenden Ziehens im Bauch schon ab der 17. Schwangerschaftswoche habe die Gefahr einer Frühgeburt bestanden. Beschwerden oder Erkrankungen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt hätten, hätten nicht vorgelegen. Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin ab dem 1. Juni 2008 Arbeitslosengeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Gegen das der Beklagten nach ihren Angaben am 3. September 2009 zugestellte Urteil hat sie am 2. Oktober 2009 Berufung eingelegt und vorgetragen, aufgrund des Beschäftigungsverbotes sei die Klägerin körperlich nicht in der Lage gewesen, eine Beschäftigung aufzunehmen noch habe sie dies dürfen. Angesichts des immer wieder auftretenden Ziehens im Bauch sei auch nicht von einer normalen Schwangerschaft auszugehen, weshalb eine Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung vorgelegen habe. Schließlich habe das BSG in seinem Urteil vom 9. September 1999, B 11 AL 77/98 R, ausgeführt, dass ein generelles Beschäftigungsverbot ohne eine Verfügbarkeit ausschließende Arbeitsunfähigkeit nicht denkbar sein dürfte. § 126 SGB III sei bereits deshalb nicht einschlägig, da sie vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit keinen Leistungsanspruch erworben habe. Eine planwidrige Gesetzeslücke liege nicht vor, da auch bei einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 2 MuSchG eine Verfügbarkeit nicht gegeben sei, weshalb davon ausgegangen werde, dass der Gesetzgeber auch in Fällen des gesetzten Beschäftigungsverbotes nach § 3 Abs. 1 MuSchG einen Anspruch auf Alg bewusst ausschließen wolle. Festzuhalten bleibe, dass in den Regeln zum MuSchG eine Entgeltleistung bzw. Sozialleistung für Mütter, die arbeitslos werden und unter das Beschäftigungsverbot fallen, nicht getroffen worden sei, was aber nicht dazu führen k...

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