Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Entschädigung wegen überlangen Gerichtsverfahrens. Übergangsregelung. Altverfahren. offensichtliche Verfristung einer Beschwerde vor dem EGMR. Rechtswegerschöpfung. Antrag und Klage auf Rücknahme des Bescheids nach rechtskräftiger Entscheidung. unangemessene Dauer des sozialgerichtlichen Verfahrens. Schwierigkeit und Bedeutung. umfangreiche Schriftsätze. kein schwerer Nachteil bei aufschiebender Wirkung des Rückforderungsbescheids

 

Leitsatz (amtlich)

1. Nur solche abgeschlossenen Altverfahren (also Gerichtsverfahren, die vor Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren abgeschlossen waren) können (noch) zum Gegenstand einer statthaften Entschädigungsklage gemacht werden, deren Dauer bereits in zulässiger Weise mit einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beanstandet worden sind. Die Übergangsregelung nach Art 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (juris: ÜberlVfRSchG) greift hingegen nicht bereits dann ein, wenn ein Verfahren vor dem EGMR zwar formal noch anhängig ist, mit einem Erfolg der Beschwerde aber wegen offensichtlicher Verfristung nach Art 35 Abs 1 MRK nicht gerechnet werden kann.

2. Eine allgemein gültige Zeitvorgabe, wie lange ein (sozialgerichtliches) Verfahren höchstens dauern darf, um nicht als unangemessen lang zu gelten, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Auch sonst ist die generelle Festlegung, ab wann ein Verfahren unangemessen lange dauert - insbesondere als feste Jahresgrenze - angesichts der Unterschiedlichkeit der Verfahren nicht möglich (vgl BVerfG vom 20.7.2000 - 1 BvR 352/00 = NJW 2001, 214).

3. Ob der Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung seines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit verletzt wurde, ist im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art 6 Abs 1 MRK sowie des Bundesverfassungsgerichts zu Art 19 Abs 4, 20 Abs 3 GG zu beurteilen (vgl auch BT Drucks 17/3802, S 1, 15). Als Maßstab nennt § 198 Abs 1 S 2 GVG die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (vgl insoweit auch EGMR, Urteil vom 24.6.2010 - 21423/07 - RdNr 32; Urteil vom 8.6.2006 - 75529/01 - Rdnr 128 = NJW 2006, 2389; Urteil vom 21.4.2011 - 41599/09 - RdNr 42 = FamRZ 2011, 1283; BVerfG vom 27.9.2011 - 1 BvR 232/11 = juris RdNr 16 = info also 2012, 28).

 

Orientierungssatz

1. Nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ist ein Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB 10 (und ein gegebenenfalls darauf aufbauender weiterer Rechtsstreit) nicht erforderlich, um die nach Art 35 MRK gebotene Rechtswegerschöpfung herbeizuführen.

2. Bei der Prüfung der Schwierigkeit des Verfahrens kann es zu berücksichtigen sein, dass der Kläger durch zahlreiche Schriftsätze und sehr ausführlichen Sach- und Rechtsvortrag (hier mehr als 30, zum Teil sehr umfangreiche Schriftsätze mit zahlreichen Rechtsprechungszitaten und Anlagen) sowohl zur Schwierigkeit des Falles als auch zur Länge des Verfahrens beigetragen hat.

3. Im Hinblick auf die Bedeutung des Verfahrens kann das Vorliegen eines schweren Nachteils zu verneinen sein, wenn der Kläger durch die aufschiebende Wirkung des Verfahrens einen erheblichen Betrag (hier 67000 Euro) zeitweise nicht zurückzahlen brauchte, obwohl ihm dieser - rechtskräftig festgestellt - nicht zustand.

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

Der Kläger macht einen Entschädigungsanspruch nach dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geltend.

Gegenstand des Verfahrens sind mehrere Gerichtsverfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit. Im Einzelnen:

I.

Klage vor dem Sozialgericht Ulm betreffend die Herabsetzung und Aufhebung der Bewilligung sowie die Rückforderung von Leistungen der Arbeitslosenhilfe (Aktenzeichen S 7 AL 1979/96, fortgeführt unter S 7 AL 1762/02).

Mit dieser am 26. August 1996 vor dem Sozialgericht Ulm (SG) erhobenen Klage wandte sich der Kläger zunächst gegen die seit dem 1. Juli 1996 erfolgte Herabsetzung von Leistungen der Arbeitslosenhilfe (Alhi) durch das Arbeitsamt G.. Ende August 1996 stellte der Kläger darüber hinaus einen auf diese Herabsetzung bezogenen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (S 7 Ar 2202/96 eA), den er im November 1996 wieder zurücknahm, nachdem sich die dortige Antragsgegnerin (Arbeitsamt G.) bereit erklärt hatte, den angegriffenen Bescheid außer Vollzug zu setzen.

Im Hauptsacheverfahren (S 7 AL 1979/96) wurden weitere Bescheide und Widerspruchsbescheide der Arbeitsverwaltung einbezogen, die zunächst eine erneute Herabsetzung, im Weiteren auch die gesamte Aufhebung der Bewilligung von Leistungen der Alhi und außerdem die Rückforderung bereits erbrachter Leistungen betrafen. Anlass hierzu waren di...

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