Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Reduzierung des Leistungsumfangs bei künstlicher Befruchtung (auf 50% der entstehenden Kosten und drei Behandlungsversuche). Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

Die zum 1.1.2004 in Kraft getretene Reduzierung des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenversicherung bei der künstlichen Befruchtung (§ 27a Abs 1 Nr 2 und Abs 3 S 3 SGB 5 idF vom 14.11.2003) verstößt nicht gegen das Grundgesetz.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die vollen Kosten für eine künstliche Befruchtung zu tragen hat.

Die 1971 geborene Klägerin und der 1969 geborene Kläger sind bei der Beklagten krankenversichert. Da der Kläger an einer hochgradigen Fertilitätsstörung leidet, legten sie der Beklagten die Behandlungs-/Kostenpläne des Dr. R (IVF-Zentrum U) vom 04.04.2005 für eine geplante intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) mit voraussichtlichen Kosten von 3.474,66 € bei der Klägerin und 56,95 € beim Kläger zur Genehmigung vor.

Mit Bescheiden vom 19.04.2005 (ohne Rechtsmittelbelehrung) genehmigte die Beklagte die vorgelegten Behandlungspläne. Die Kostenzusage gelte für drei Behandlungsversuche und 50 % der entstehenden Kosten (inklusive Medikamentenkosten).

Dagegen erhoben die Kläger am 30.05.2005 Widerspruch mit der Begründung, die Beklagte sei zur Erstattung der vollen Kosten der Kinderwunschbehandlung für vier Behandlungszyklen verpflichtet. Die gesetzliche Regelung des § 27 a Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), auf die sich die Beklagte bei der Begrenzung der Leistungspflicht berufe, sei verfassungswidrig und stelle ein ungerechtfertigtes und unzumutbares Sonderopfer von Ehegatten und Familien als Beitrag zur Konsolidierung der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Die Regelung verstoße gegen elementare Verfassungsgrundsätze, insbesondere das spezielle Diskriminierungsverbot aus dem Schutzauftrag des Staates gegenüber Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Das GKV-Modernisierungsgesetz stelle ausschließlich Ehepaare mit Kinderwunsch gegenüber anderen Patientengruppen schlechter. Die Ehepartner mit Kinderwunsch würden zur Konsolidierung der gesetzlichen Krankenversicherung besonders belastet. Vom Vorsitzenden des Bundesverbandes Reproduktionsmedizinischer Zentren werde aufgrund der Neuregelung ein Anstieg der Mehrlingsgeburten mit einer daraus resultierenden Kostenerhöhung befürchtet, da potentielle Eltern unter dem Kostendruck versucht sein würden, die rechtlich mögliche maximale Anzahl befruchteter Eizellen implantieren zu lassen, um so die Chancen einer Geburt zu erhöhen. Die Nichtanwendung der sonst geltenden Obergrenze für Selbstbeteiligungen von 2 % des Jahreseinkommens stelle eine weitere Schlechterstellung von Familien gegenüber Nicht-Familien dar. Auch das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG sei durch die Reduktion der Kostenübernahme auf 50 % verletzt, da eine unsachgemäße Differenzierung zwischen zwei gleichen Sachverhalten vorgenommen werde. Grundsätzlich übernehme die gesetzliche Krankenkasse auch noch nach der Gesundheitsreform die Kosten einer notwendigen medizinischen Behandlung, bei einer künstlichen Befruchtung jedoch nur noch 50 %, obwohl es sich auch dabei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), des Bundessozialgerichts (BSG) und des Bundesfinanzgerichtshofs (BFH) um eine Heilbehandlung handle. Die künstliche Befruchtung der Eizellen der Frau mit dem Sperma ihres Mannes vermöge einem Ehepaar zu einem (genetisch) gemeinsamen Kind zu verhelfen und damit die Folgen eines anormalen körperlichen Zustandes der Frau - nämlich ihre Unfähigkeit, durch einen Zeugungsakt von ihrem Ehemann Kinder zu empfangen - zu überwinden. Ohne Belang sei, dass die künstliche Befruchtung nicht die Empfängnisunfähigkeit der Frau "heile", sondern lediglich unbeschadet fortbestehender Empfängnisunfähigkeit eine Schwangerschaft mittels ärztlicher Kunst herbeiführe. Der Gleichheitssatz sei auch durch die Ungleichbehandlung von besser und schlechter Verdienenden verletzt. Die Gesundheitsreform wolle weiterhin dauerhaft die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung garantieren, unabhängig vom Einkommen des Patienten. Durch die Einschränkung des Anspruchs auf 50 %ige Kostenübernahme sei die notwendige medizinische Versorgung im Bereich der künstlichen Befruchtung jedoch denjenigen Einkommensgruppen verwehrt, die die übrigen 50 % nicht aufbringen könnten. Durchschnittlich koste eine Behandlung 2500,- €, wobei meist mehrere Behandlungen notwendig seien. Danach sei auch das Recht auf Familiengründung aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt, denn die Neuregelung stelle einen Eingriff in diesen Schutzbereich dar, der nicht gerechtfertigt sei. Für die Familie bedeute Art. 6 Abs. 1 GG als Abwehrrecht, dass der Staat die Freiheit der Familiengründung im Prinzip ermöglichen müsse, beschränkt nur durch andere Grundrechte. Zwangssterilisation und andere Beschränkungen der Fortpflanzungsmöglichkeiten bedürften einer besonderen L...

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