Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Neuregelung des Regelbedarfs. Verfassungsmäßigkeit. sozialgerichtliches Verfahren. Berufung. Verfahrensmangel. Nichterwähnen einzelnen Vorbringens. rechtliches Gehör. Gegenstand des Verfahrens. Einbeziehung eines weiteren Bescheides. Bekanntgabe des schriftlichen Verwaltungsaktes. Zugangsfiktion

 

Leitsatz (amtlich)

Die aufgrund des Urteils des BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 = BVerfGE 125, 175 = NJW 2010, 505 notwendig gewordene Neuregelung der existenzsichernden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Regelbedarf) ist für alleinstehende Personen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

Orientierungssatz

1. Die bloße Behauptung, ein bestimmter Vortrag des Klägers sei vom Sozialgericht nicht berücksichtigt worden, genügt den Anforderungen an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels iS des § 159 Abs 1 SGG nicht. Das Gericht ist im Rahmen des rechtlichen Gehörs gem § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen auch in der Begründung seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Insbesondere ist es nicht verpflichtet, auf sämtliche Tatsachen und Rechtsansichten einzugehen, die im Laufe eines Verfahrens von der einen oder der anderen Seite zur Sprache gebracht worden sind (vgl BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 = BVerfGE 96, 205 und BSG vom 5.10.2010 - B 8 SO 62/10 B). Ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör kann nicht angenommen werden, wenn das Gericht Ausführungen eines Beteiligten unerwähnt lässt, die nach seinem Rechtsstandpunkt unerheblich oder offensichtlich haltlos sind.

2. § 96 SGG ist (durch das SGG/ArbGGÄndG vom 26.3.2008, BGBl I 2008, 444) zum 1.4.2008 dahin geändert worden, dass ein nach Klageerhebung ergangener neuer Verwaltungsakt "nur dann" Gegenstand des Klageverfahrens wird, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Diese Vorschrift ist erst auf Verwaltungsakte anwendbar, die nach ihrem Inkrafttreten ergangen sind. Ein Überprüfungsbescheid iS des § 44 SGB 10 wird nicht Gegenstand des Klageverfahrens gegen den ursprünglichen Bescheid (vgl BSG vom 30.9.2008 - B 9 SB 19/09 B).

3. Der Anwendungsbereich der Bekanntgabefiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB 10 ist erst eröffnet, wenn sich ein Vermerk über die Aufgabe zur Post in den Behördenakten befindet (vgl BSG vom 6.5.2010 - B 14 AS 12/09 R = SozR 4-1300 § 37 Nr 1 und vom 28.11.2006 - B 2 U 33/05 R = BSGE 97, 279 = SozR 4-2700 § 136 Nr 2).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 12.07.2012; Aktenzeichen B 14 AS 153/11 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 14. Februar 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen betreffend die Höhe des Regelbedarfs ab 1. Januar 2011.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01. November 2010 bis zum 30. April 2011 streitig.

Die 1958 geborene, alleinstehende Klägerin bezieht seit 01. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von der Beklagten. Die Kosten für Unterkunft und Heizung werden gesondert durch den kommunalen Träger, den R.-N.-Kreis, erbracht. Im Bereich des R.-N.-Kreises bestand und besteht zwischen dem kommunalen Träger und der Bundesagentur für Arbeit keine Arbeitsgemeinschaft.

Auf Fortzahlungsantrag bewilligte die Beklagte der erwerbsfähigen Klägerin, die über kein Einkommen und Vermögen verfügt, für die Zeit vom 01. November 2010 bis zum 30. April 2011 Arbeitslosengeld II (ALG II) in Höhe von monatlich 359,-- € (Bescheid vom 12. Oktober 2010). Dagegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 25. November 2010 (Eingang bei der Beklagten am 03. Dezember 2010) Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07. Dezember 2010 als unzulässig verwarf. Der angefochtene Bescheid sei am 12. Oktober 2010 zur Post gegeben worden. Nach einer normalen Postlaufzeit von 3 Tagen gelte der Bescheid als am 15. Oktober 2010 zugegangen (§ 37 Abs. 2 SGB X). Die einmonatige Widerspruchsfrist sei bis zum 15. November 2010 gelaufen. Der Widerspruch sei erst am 03. Dezember 2010 und damit nach Ablauf der Widerspruchsfrist eingegangen. Gründe, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigten, seien weder vorgebracht noch nach Aktenlage zu erkennen.

Die Beklagte fasste das Widerspruchsschreiben als Überprüfungsantrag im Sinne des § 44 SGB X auf und wies diesen mit Bescheid vom 07. Dezember 2010 zurück. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin keinen Widerspruch ein, sondern beantragte mit Schreiben vom 29. Dezember 2010 die Überprüfung aller Bewilligungs- und Änderungsbescheide für die Zeit ab 01. Januar 2005. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 05. Januar 2011 und Widerspruchsbescheid vom 01. Februar 2011).

Am 05. Januar 2011 hat die Klägerin gegen den Widerspruchsbescheid vom 07. Dezember 2010 Klage zum Sozialgerich...

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