Entscheidungsstichwort (Thema)

Allgemeines Rücksichtnahmegebot bei Zweifeln der Beteiligten in gleichem Maße an Vorfahrberechtigung

 

Leitsatz (amtlich)

Bestehen für zwei aus unterschiedlichen Fahrtrichtungen an eine Kreuzung oder Einmündung heranfahrende Fahrzeugführer gleichermaßen Zweifel an ihrer Vorfahrtberechtigung, so gilt in deren Verhältnis ungeachtet der tatsächlichen Vorfahrtregelung das allgemeine Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO.

 

Normenkette

StVO §§ 10, 1 Abs. 2, § 17

 

Verfahrensgang

AG Saarlouis (Urteil vom 17.12.2010; Aktenzeichen 29 C 1320/10)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Saarlouis vom 17.12.2010 – 29 C 1320/10 – abgeändert und die Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 2.140,85 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.06.2010 sowie außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 272,87 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

2. Die Kosten der 1. Instanz tragen der Kläger und die Beklagten als Gesamtschuldner jeweils zu 1/2. Die Kosten der Berufungsinstanz tragen der Kläger zu 1/3 und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 2/3.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

I.

Der Kläger begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 10.05.2010 in … ereignet hat.

Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug die … und wollte nach links in die … abbiegen. Dabei kam es zur Kollision mit dem Erstbeklagten, der mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Motorroller aus Sicht des Klägers von rechts kommend die … in Geradeausrichtung befuhr. Für den Kläger und den Erstbeklagten war die Sicht auf den jeweils anderen in der Annäherung an die Unfallstelle durch eine Hecke eingeschränkt.

Der Kläger hat erstinstanzlich die Auffassung vertreten, dass der Erstbeklagte von einem anderen Straßenteil auf die Straße eingefahren sei und deshalb gegen § 10 StVO verstoßen habe.

Die Beklagten haben eingewandt, dass ein Pflichtenverstoß allein auf Klägerseite zu sehen sei, da der Kläger die Vorfahrt des Erstbeklagten missachtet habe. Für den Erstbeklagten habe sich der Unfall als ein unabwendbares Ereignis dargestellt.

Das Amtsgericht hat der Klage auf der Grundlage einer Haftung der Beklagten von 75% stattgegeben. Es hat ausgeführt, dass der Erstbeklagte gegen § 10 StVO verstoßen habe. Es sei zwar richtig, dass die … einige wenige Meter über die Einmündung der … hinausreiche. Die einheitliche Asphaltdecke ende allerdings nach nur 4 Metern und gehe in ein Verbundsteinpflaster über, das bereits Bestandteil des an Ort und Stelle befindlichen Kirchplatzes sei. Die Verlängerung der … über die Einmündung der … hinaus stelle sich daher ausschließlich als Einfahrt auf den Kirchplatz als Anliegergrundstück dar. Wer diese benutze, müsse sich wie ein Einfahrender iSd. § 10 StVO verhalten. Der Erstbeklagte hätte daher dem Kläger den Vorrang einräumen müssen. Die den Erstbeklagten treffende Wartepflicht sei jedoch nicht so eindeutig, wie dies normalerweise der Fall sei. Deshalb müsse die einfache Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeuges mit 25% Berücksichtigung finden.

Die Beklagten wenden sich in erster Linie gegen die Rechtsanwendung durch das Amtsgericht. Der Erstrichter sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass § 10 StVO hier Anwendung finde. Aufgrund der objektiven Merkmale sei nicht von einer Zufahrt auszugehen. Der Straßenteil sei als „…” bezeichnet; es stehe dort sogar ein entsprechendes Verkehrsschild. Äußerlich erkennbare Merkmale wie abgesenkter Bordstein oder andersartige Oberflächenbeschaffenheit, die auf einen anderen Straßenteil hindeuten könnten, lägen hier nicht vor. Vielmehr sei es so, dass sich die … im Einmündungsbereich nicht von dem sonstigen Erscheinungsbild der Straße unterscheide. Für einen Ortsunkundigen spreche das Erscheinungsbild der Straße für die Geltung der Regel „rechts vor links”. Selbst wenn man der Argumentation des Amtsgerichts folgen wolle, so hätte der Kläger besondere Vorsicht walten lassen müssen, da durch Verkehrszeichen auf die Gefahr spielender Kinder hingewiesen werde. Schließlich rügen die Beklagten, dass der Erstrichter keinen Beweis über den tatsächlichen Unfallhergang, insbesondere zur Unvermeidbarkeit für den Erstbeklagten, erhoben habe. Insoweit sei Beweis durch Zeugen und Sachverständigengutachten angeboten worden.

Der Kläger verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie hat in der Sache teilweise Erfolg. Die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere als die vom Amtsgericht getroffene Entscheidung (§ 513 Abs.1 ZPO).

1. Zutreffend und von der Berufung nicht angegriffen ist das Erstgericht davon ausgegangen, dass sowohl der Kläger als auch die Beklagten für den Unfall haften (vgl. §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2 StVG iVm. § 115 VVG), weil der Unfall nicht durch höh...

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