Entscheidungsstichwort (Thema)

Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Umfassende Interessenabwägung vor Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer fristlosen oder ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht. Eigenmächtiges Verlassen des Arbeitsplatzes kann einen "wichtigen Grund" darstellen.

2. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

3. Beruht die Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Lübeck (Entscheidung vom 19.08.2021; Aktenzeichen 1 Ca 899/21)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 19.08.2021 - 1 Ca 899/21 - abgeändert und festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 11.05.2021 weder fristlos noch fristgerecht endete.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Rechtmäßigkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen fristlosen, hilfsweise fristgerechten Kündigung.

Die 37-jährige Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 01.03.2009 als Verkäuferin zu einem Stundenlohn von 12,10 € brutto beschäftigt. Bei einer 38,5 Stundenwoche beträgt ihr durchschnittliches Monatsgehalt 2.017,13 € brutto. Die Beklagte betreibt eine Bäckerei und Konditorei mit vier weiteren Filialen.

Am 11.05.2021 war die Klägerin zusammen mit der Auszubildenden Frau St. in einer Bäckereifiliale der Beklagten tätig. Die Klägerin war an diesem Tag bis 10: 30 Uhr zum Dienst eingeteilt. Die Auszubildende teilte ihr gegen 07: 00 Uhr mit, dass es ihr nicht gut gehe, sie versuche aber bis Schichtende zu arbeiten, könne jedoch nicht mehr den Laden saubermachen. Die Klägerin erwiderte, dass sie wegen eines anderweitigen Termins nur bis 10: 30 Uhr arbeiten könne. Gegen 8: 30 Uhr rief die Auszubildende im Büro der Beklagten an und teilte der Zeugin B. mit, dass es ihr nicht gut ginge. Gleichzeitig wies die Auszubildende darauf hin, dass die Klägerin ihr gesagt habe, dass sie heute nur bis 10: 30 Uhr arbeiten könne. Auf Anweisung der Personalleiterin, der Zeugin von K., rief die Zeugin B. wenig später in der Filiale an und teilte der Auszubildenden mit, dass die Klägerin bis zum Eintreffen einer Ersatzkraft weiterarbeiten solle, damit sie, die gesundheitlich angeschlagene Auszubildende, nicht allein in der Filiale bleibe. Dies teilte die Auszubildende der Klägerin mit. Hierauf rief die Klägerin im Büro der Beklagten an und teilt Frau B. mit, dass sie nicht länger als 10: 30 Uhr arbeiten werde. Sodann rief die Personalleiterin von K. die Klägerin an. Im Rahmen dieses Gespräches teilte die Klägerin Frau von K. mit, dass sie um die gesundheitliche Situation von Frau St. wisse und bekräftigte erneut, nicht länger als bis 10.30 Uhr zu arbeiten. Die Zeugin wies die Klägerin ihrerseits darauf hin, dass sie mit einer Abmahnung rechnen müsse, wenn sie trotz der Notsituation um 10: 30 Uhr den Arbeitsplatz verlasse. Da die Beklagte nicht sofort eine Ersatzkraft in die Filiale senden konnte, begab sich die Büromitarbeiterin Frau S. in die Filiale der Klägerin, um nach der Auszubildenden zu sehen und mit der Klägerin zu reden. Beim Eintreffen in der Filiale gegen 09: 45 Uhr beendete die Klägerin ihre Tätigkeit und verließ sodann die Filiale. Die Zeugin S. half der Auszubildenden bis zum Eintreffen der Ersatzkraft um 12: 20 Uhr. Frau S. blieb mit der Auszubildenden in der Filiale bis um 12: 20 Uhr die weitere Mitarbeiterin Frau P. eintraf und fuhr sodann die Auszubildende zum Arzt.

Am 12.05.2021 meldete sich die Klägerin gegen 08: 00 Uhr bei der Beklagten arbeitsunfähig. Ihre Hausärztin attestierte ihr eine Arbeitsunfähigkeit vom 12.05...

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