Entscheidungsstichwort (Thema)

Dispositionsbefugnis der Tarifvertragsparteien bezüglich des tariflichen Mehrurlaubs. Keine Beachtung der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers beim Verfall des tariflichen Mehrurlaubs. Verfall des tariflichen Mehrurlaubs bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers

 

Leitsatz (amtlich)

Nach § 12 Abschn. I Ziff. 11 des Manteltarifvertrags für die chemische Industrie (MTV) ist der tarifliche Mehrurlaub auf den 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres befristet und verfällt auch dann, wenn der Arbeitnehmer bis dahin den Mehrurlaub wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht in Anspruch nehmen konnte und deshalb lediglich dessen "Übertragung" verlangt hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Tarifvertragsparteien können Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigen, frei regeln. Diese Befugnis schließt die Befristung des tariflichen Mehrurlaubs ein.

2. Haben die Tarifvertragsparteien ein Fristenregime für den tariflichen Mehrurlaub geregelt, ist der Mehrurlaubsanspruch unabhängig davon befristet, ob der Arbeitgeber den Mitwirkungsobliegenheiten genügt, an die das BUrlG den Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs knüpft.

 

Normenkette

BUrlG §§ 7, 1, 3 Abs. 1; RL 2003/88/EG Art. 7 Abs. 1; MTV Chemische Industrie v. 24.06.1992 § 12 Abschn. I Nr. 11 Fassung: 2019-11-22

 

Verfahrensgang

ArbG Mainz (Entscheidung vom 18.08.2021; Aktenzeichen 4 Ca 833/21)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 25.07.2023; Aktenzeichen 9 AZR 285/22)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 18.08.2021 - 4 Ca 833/21 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

  • II.

    Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger aus dem Jahr 2020 noch zehn Tage tariflicher Mehrurlaub zustehen.

Der Kläger ist bei der Beklagten, einem Unternehmen der chemischen Industrie, aufgrund Arbeitsvertrags vom 24. August 1993 (Bl. 98 - 101 d.A.) seit dem 1. Oktober 1993 als Chemiearbeiter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet sowohl aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung als auch kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der für die chemische Industrie geltende Manteltarifvertrag vom 24. Juni 1992 in der Fassung vom 22. November 2019 (MTV) Anwendung, der am 1. Dezember 2019 in Kraft trat. Der MTV enthält in § 12 u.a. folgende Regelungen:

"§ 12

Urlaub

I.

Urlaubsanspruch

...

1. Der Arbeitnehmer hat für jedes Kalenderjahr Anspruch auf einen bezahlten Urlaub.

2. Das Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.

...

11. Der Urlaub ist spätestens bis 31. März des folgenden Kalenderjahres zu gewähren.

Der Urlaubsanspruch erlischt, wenn er nicht bis dahin geltend gemacht worden ist.

II.

Urlaubsdauer

1. Der Urlaub beträgt 30 Urlaubstage."

Mit Bescheid vom 19. August 2020 wurde der Kläger rückwirkend ab dem 1. April 2019 als schwerbehinderter Mensch anerkannt.

Der Kläger war ab dem 10. Januar 2020 bis zum 29. Oktober 2021 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.

Mit Schreiben vom 17. März 2021 (Bl. 12 d.A.) beantragte der Kläger "die Übertragung" seines tariflichen Urlaubsanspruchs "in Höhe von anteilig 28 Urlaubstagen" sowie seines Anspruchs auf fünf Tage Zusatzurlaub (§ 208 Abs. 1 SGB IX) und bat die Beklagte darum, ihm "die Übertragung" seines Urlaubsanspruchs aus dem Jahr 2020 bis zum 31. März 2021 zu bestätigen. Daraufhin teilte ihm die Beklagte mit Schreiben vom 19. März 2021 (Bl. 13 d.A.) mit, dass eine aktive Übertragung von Urlaubsansprüchen nicht nötig sei, weil diese bei Vorliegen der Voraussetzungen automatisch übertragen würden, wobei zwischen dem Tarifurlaub und dem gesetzlichen Mindesturlaub unterschieden werde. Während der gesetzliche Mindesturlaub und der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen bei Langzeiterkrankten erst am 31. März des übernächsten Jahres, mithin am 31. März 2022, erlösche, würden zehn "übergesetzliche" tarifliche Urlaubstage aus dem Jahr 2020 am 31. März 2021 verfallen (§ 12 Abschn. I Ziff. 11 Satz 2 MTV).

Mit seiner am 13. Juli 2021 beim Arbeitsgericht Mainz eingegangenen Klage hat der Kläger die Übertragung des tariflichen Zusatzurlaubs aus dem Jahr 2020 im Umfang von zehn Urlaubstagen auf sein Urlaubskonto für das Jahr 2021 begehrt.

Er hat unter Verweis auf die von ihm angeführte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 17. November 2015 - 9 AZR 275/14 - die Auffassung vertreten, dass es lediglich auf eine rechtzeitige Geltendmachung des Übertragungsanspruchs ankomme, und nicht darauf, ob der Urlaub dann auch noch bis zum 31. März des Folgejahres in natura genommen werden könne. Wegen der weiteren Einzelheiten seines erstinstanzlichen Vorbringens wird auf die Klageschrift vom 13. Juli 2021 verwiesen.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, tariflichen Zusatzurlaub aus dem Jahr 2020 im Umfang von zehn Urlaubstagen auf sein Urlaubskonto für das Jahr 2021 zu übertragen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 10. August 2021 hat das Arbeitsgerich...

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