Entscheidungsstichwort (Thema)

Zugang einer schriftlichen Willenserklärung unter Abwesenden. Verstoß gegen Treu und Glauben beim Zugang einer schriftlichen Willenserklärung unter Abwesenden (Zugangsvereitelung). Krankheit als wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Nach § 130 Abs. 1 BGB wird eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie dem Empfänger zugeht. Eine schriftliche Willenserklärung ist zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen wie ein Briefkasten. Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist nach den "gewöhnlichen Verhältnissen" und den "Gepflogenheiten des Verkehrs" zu beurteilen. So bewirkt der Einwurf in einen Briefkasten den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist.

2. Verhindert der Empfänger durch eigenes Verhalten den Zugang einer Willenserklärung, muss er sich so behandeln lassen, als sei ihm die Erklärung bereits zum Zeitpunkt des Übermittlungsversuchs zugegangen. Nach Treu und Glauben ist es ihm verwehrt, sich auf den späteren tatsächlichen Zugang zu berufen, wenn er selbst für die Verspätung die alleinige Ursache gesetzt hat. Sein Verhalten muss sich als Verstoß gegen bestehende Pflichten zu Sorgfalt oder Rücksichtnahme darstellen.

3. Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit kann ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB sein. Grundsätzlich ist dem Arbeitgeber aber die Einhaltung der Kündigungsfrist zuzumuten, und schon an eine ordentliche Kündigung wegen Arbeitsunfähigkeit ist ein strenger Maßstab anzulegen. Eine außerordentliche Kündigung kommt daher nur in eng begrenzten Fällen in Betracht, etwa wenn die ordentliche Kündigung aufgrund tarifvertraglicher oder einzelvertraglicher Vereinbarungen ausgeschlossen ist.

 

Normenkette

BGB § 130 Abs. 1 S. 1, § 626 Abs. 1; KSchG § 4 S. 1; TVöD § 34 Abs. 2 S. 1; BGB §§ 188, 242; ZPO § 138 Abs. 2; TzBfG § 14 Abs. 2 S. 1; LPersVG Rheinland-Pfalz § 82 Abs. 3 S. 1; SGB IX § 174

 

Verfahrensgang

ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 25.03.2021; Aktenzeichen 6 Ca 542/19)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - vom 25. März 2021, Az.: 6 Ca 542/19, wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen krankheitsbedingten Kündigung, die Weiterbeschäftigung des Klägers und Ansprüche auf Annahmeverzugsvergütung.

Der 1962 geborene Kläger ist seit dem 1. März 1979 bei der Beklagten als städtischer Mitarbeiter beschäftigt. Er ist als ungelernter Arbeiter im Bereich Grünflächen und Friedhöfe mit einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 2.883,70 € bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden beschäftigt.

Der Kläger ist seit dem 18. Dezember 1991 mit einem Grad von 50 als schwerbehindert anerkannt. Die Anerkennung beruht auf einem Anfallsleiden und organischem Psychosyndrom nach Hirnkontusion und Schädelbruch. Der Kläger ist ledig und hat keine Unterhaltsverpflichtungen.

Auf das Arbeitsverhältnis finden die Vorschriften des TVöD VKA Anwendung. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist gemäß § 34 Abs. 2 TVöD ordentlich unkündbar.

Die Beklagte beschäftigt regelmäßig circa 110 Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden.

Im Jahr 2016 war der Kläger 72 Arbeitstage erkrankt (vgl. Fehlzeitenübersicht 2016 Bl. 137 d. A.). Im Jahr 2017 war er bis zum 5. Mai durchgängig, also 90 Arbeitstage erkrankt (vgl. Fehlzeitenübersicht 2017 Bl. 138 d. A.). Ab dem 20. August 2018 war der Kläger erneut ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Dies sind 50 Arbeitstage in 2018 (vgl. Fehlzeitenübersicht 2018 Bl. 139 d. A.). Im Jahr 2019 war der Kläger durchgehend arbeitsunfähig erkrankt, somit an allen 248 Arbeitstagen.

Am 21. Mai 2019 (Bl. 140 d. A.) wurde er von der Beklagten schriftlich um eine betriebsärztliche Untersuchung und unter dem 8. Juli 2019 (Bl. 141 f. d. A.) schriftlich darum gebeten, seine behandelnden Ärzte ihr gegenüber von der Verschwiegenheitspflicht zu entbinden. Der Kläger reagierte hierauf nicht. Am 8. August 2019 (Bl. 144 d. A.) wurde der Kläger zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement eingeladen. An dem sodann am 16. Oktober 2019 bei der Beklagten durchgeführten Präventionsgespräch nahm der Kläger trotz Einladung ohne Erklärung nicht teil. Zu diesem Präventionsgespräch hatte die Beklagte neben dem Kläger das Integrationsamt, die Agentur für Arbeit, die Deutsche Rentenversicherung, die Schwerbehindertenvertretung, den Personalrat und den Abteilungsleiter Grünflächen eingeladen. Anwesend waren sodann Frau D. vom Integrationsamt L., der Personalratsvorsitzende Da. der Leiter des Personalamts der Stadt Z., Herr K., in Begleitung der für den Kläger zuständigen Mitarbeiterin B., der für den Kläger zuständige Abteilun...

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