Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschlechtsbezogene Benachteiligung bei der Entlohnung von Frauen und Männern. Anpassung der Vergütung “nach oben„ und Entschädigungsanspruch bei jahrelanger vorsätzlicher Benachteiligung von Arbeitnehmerinnen in der Schuhproduktion

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Nach der Wertung des § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Abs. 2 AGG ist bei einer gesetzwidrigen Benachteiligung eine Grundlage für Ansprüche auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeiten gegeben. Auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gibt benachteiligten Arbeitnehmerinnen einen Anspruch auf die Leistungen, die ihnen aufgrund ihres Geschlechts vorenthalten wurden, so dass die Beseitigung der Benachteiligung bei der Entgeltzahlung nur durch eine “Anpassung nach oben„ erfolgen kann.

2. Der Leistungsanspruch auf benachteiligungsfreie Entlohnung ist ein Erfüllungsanspruch und kein Schadensersatzanspruch. Für Ansprüche aus § 7 Abs. 1 AGG auf Erfüllung derjenigen Ansprüche, die der begünstigten Gruppe gewährt wurden, gilt die Verfallsregelung des § 15 Abs. 4 AGG nicht.

3. Bei der Bestimmung der Höhe eines Entschädigungsanspruchs gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG steht dem Gericht ein Beurteilungsspielraum zu. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG muss angemessen sein und einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte gewährleisten.

4. Die Höhe der Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG muss der Schwere des Verstoßes entsprechen, damit sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet und zugleich den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Zu berücksichtigen sind alle Umstände des Einzelfalls (wie etwa die Art und Schwere der Benachteiligung, ihre Dauer und Folgen, der Anlass und der Beweggrund des Handelns) und der Sanktionszweck der Entschädigungsnorm.

5. Wird eine Vielzahl von Frauen über Jahre hinweg vorsätzlich wegen ihres Geschlechts bei gleicher Tätigkeit geringer vergütet als Männer, gebieten Art, Schwere und Dauer dieser Benachteiligung sowie der Umstand, dass es sich um eine unmittelbare Benachteiligung handelt, die schwerer wiegt als eine bloß mittelbare, die Festsetzung eines fühlbaren Entschädigungsbetrages, der unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine Entschädigung in Höhe von 6.000 EUR als angemessen erscheinen lassen kann. Dass die Arbeitgeberin die fortgesetzte geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen jederzeit “offen kommuniziert„ hat, schmälert den Unwertgehalt der offensichtlich rechtwidrigen Benachteiligung nicht.

6. Erfolgt die Benachteiligung im bestehenden Arbeitsverhältnis, muss die Höhe der Arbeitsvergütung nicht zwingend Einfluss auf die Höhe der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG haben. Benachteiligungen wegen des Geschlechts stellen regelmäßig eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar und sind deshalb als solche unabhängig von den materiellen Ansprüchen zu ahnden.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; BGB §§ 242, 611 Abs. 1; AGG § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 2, § 15 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

ArbG Koblenz (Entscheidung vom 27.08.2013; Aktenzeichen 9 Ca 376/13)

 

Tenor

  1. Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten wird unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 27. August 2013, Az. 9 Ca 376/13, unter Aufrechterhaltung im Übrigen in Ziff. I.2 und Ziff. I.3 abgeändert und insoweit wie folgt neu gefasst:

    Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung iHv. € 6.000,00 zu zahlen.

    Die Auskunftsklage wird abgewiesen.

  2. Von den Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin 25 % und die Beklagte 75 % zu tragen.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten zweitinstanzlich noch über die Zahlung von Differenzlohn für die Jahre von 2009 bis 2012, einer Entschädigung wegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sowie um Auskunftsansprüche.

Die Beklagte stellt Schuhe her. Die 1953 geborene Klägerin ist bei ihr seit 01.08.1994 als Produktionsmitarbeiterin beschäftigt. Die Beklagte zahlte bis 31.12.2012 den in der Produktion beschäftigten Frauen bei gleicher Tätigkeit einen geringeren Stundenlohn als den Männern. Die Anwesenheitsprämie (5 % des Bruttolohns), das Weihnachtsgeld (40 % des Bruttolohns) und das Urlaubsgeld (46,5 % des Bruttolohns) berechnete die Beklagte für Frauen bis 31.12.2012 ebenfalls auf der Grundlage des niedrigeren Stundenlohns. Die Vergütungsdifferenz im Zeitraum vom 01.01.2009 bis 31.12.2012 betrug - was zweitinstanzlich rechnerisch unstreitig ist - € 10.149,50 brutto.

Die geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung bei der Entlohnung von Frauen und Männern ist der Klägerin spätestens seit einer Betriebsversammlung, die im September 2012 stattfand, bekannt. Ob sie bereits seit einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von dieser Ungleichbehandlung hatte, ist zwischen den Parteien streitig.

Mit Schreiben ihres jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 09.11.2012 machte die Kläger...

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