Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Entbindungsverfügung gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG. Entbindungsverfügung. unzumutbare wirtschaftliche Belastung. offensichtlich unbegründeter Widerspruch

 

Leitsatz (amtlich)

1. Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund der Entbindungsverfügung gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG setzen nicht das Bestehen des Weiterbeschäftigungsanspruchs gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG voraus. Allenfalls kann das Rechtsschutzinteresse an einer Entbindungsverfügung fehlen, wenn z. B. der Weiterbeschäftigungsanspruch zweifelsfrei nicht besteht und vom Arbeitnehmer gar nicht (mehr) geltend gemacht wird (Bestätigung des Urteils des LAG München vom 05.10.1994 LAGE BetrVG 1972 § 102 Beschäftigungspflicht Nr. 19).

2. Der Arbeitgeber kann gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG nicht schon dann von der Weiterbeschäftigungspflicht gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG entbunden werden, wenn der Widerspruch des Betriebsrats (nur) nicht ordnungsgemäß iSv. § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG, sondern nur dann, wenn der Widerspruch (auch) offensichtlich unwirksam war (Bestätigung des Urteils des LAG München vom 05.10.1994 LAGE BetrVG 1972 § 102 Beschäftigungspflicht Nr. 19).

3. § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG stellt auf die durch die Weiterbeschäftigungskosten des einzelnen Arbeitnehmers verursachte wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers ab.

4. Ob die Weiterbeschäftigungskosten des einzelnen Arbeitnehmers zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers iSv. § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG führen würden, kann nur im Einzelfall entschieden werden.

5. Der Entbindungsgrund des § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG kommt auch dann in Betracht, wenn das Arbeitsverhältnis gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG zwar weiter besteht und der Arbeitgeber Arbeitsentgelt schuldet, der Arbeitnehmer aber ausnahmsweise keinen Anspruch auf tatsächliche Weiterbeschäftigung hat und deswegen auch tatsächlich nicht weiterbeschäftigt wird (Fortführung des Urteils des LAG München vom 13.07.1994 LAGE BetrVG 1972 § 102 Beschäftigungspflicht Nr. 17).

 

Normenkette

BetrVG § 102 Abs. 5 S. 2 Nrn. 2-3

 

Verfahrensgang

ArbG München (Urteil vom 17.07.2003; Aktenzeichen 32 Ga 231/03)

 

Tenor

Die Berufung der Verfügungsklägerin gegen dasUrteil desArbeitsgerichts München vom17.07.2003 – 32 Ga 231/03 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im einstweiligen Verfügungsverfahren über die Entbindung der Klägerin von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung der Beklagten gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG.

Die Klägerin ist ein Elektrotechnikunternehmen, das in München vier Betriebe unterhält. In dem Betrieb (Mch H) sind zurzeit (noch) etwa 5.600 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich Information and Communication Networks (ICN) und etwa 1.700 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich Information and Communication Mobile (ICM) beschäftigt.

Die am 28.07.1967 geborene Beklagte ist gelernte technische Assistentin und seit 31.10.1987 bei der Klägerin beschäftigt. Zuletzt war die Beklagte als Servicemarketingmanagerin in der Organisationseinheit ICN AS CS M im Betrieb Mch H tätig.

Wegen eines erheblichen Auftrags- und Umsatzrückgangs beschloss der ICN-Bereichsvorstand im Juli bzw. September 2002, die Personalkapazität an den Bedarf anzupassen und das so genannte Carrier-Geschäft (mit Telefonanlagen und -systemen für Telefongesellschaften im Festnetzbereich) neu zu organisieren.

Diesbezüglich vereinbarte die Klägerin mit dem Betriebsrat Mch H den Interessenausgleich „Kapazitätsanpassung ICN München H 2002 und Neuausrichtung des ICN-Carrier-Geschäfts” vom 23.10.2002. Gemäß Nr. 3.1 dieses Interessenausgleichs wurde „mit Wirkung zum 01.11.2002” die „neue ICN Carrier-Organisation eingeführt” und gemäß Nr. 4.3 sollten 1.100 Arbeitnehmer „– so weit möglich – einvernehmlich … ausscheiden” und dementsprechend „höchstens 1.100 betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen” werden.

Auf der Grundlage dieses Interessenausgleichs kündigte die Klägerin mit Schreiben vom 15.01.2003 im Geschäftsbereich ICN – gegen den Widerspruch des Betriebsrats – insgesamt 154 Arbeitnehmern, die sie alle „ab sofort” unter Fortzahlung der Vergütung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung bis zum Ablauf der jeweiligen Kündigungsfrist freistellte.

Der Beklagten wurde – gegen den Widerspruch des Betriebsrats – mit Schreiben vom 15.01.2003 zum 31.05.2003 gekündigt und die sofortige Freistellung erklärt.

Mit Schriftsatz vom 29.01.2003 hat die Beklagte gegen die Kündigung vom 15.01.2003 Kündigungsschutzklage erhoben und außerdem beantragt, die Klägerin zu ihrer Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzrechtsstreits zu verurteilen. Dieser Rechtsstreit Nr. 23 Ca Arbeitsgericht München ist noch nicht entschieden.

Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Klägerin mit der Antragsschrift vom 29.04.2003 beantragt, sie gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG durch einstweilige Verfügung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung der Beklagten gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1...

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