Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesamtbetriebsvereinbarung. Betriebsübergang. Vertrauensschutz. Kündigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Nach dem Übergang nur eines von mehreren Betrieben bleiben die Gesamtbetriebsvereinbarungen als Einzelbetriebsvereinbarungen in dem übergegangenen Betrieb mit normativer Geltung bestehen.

2. Die (bloße) individualrechtliche Fortgeltung der Regelungen in den Gesamtbetriebsvereinbarungen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ist auch dann nicht anzunehmen, wenn der Betriebsübergang bereits im Jahr 1993 und damit vor dem grundlegenden Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 18.9.2002 – 1 ABR 54/01 – stattgefunden hat.

3. Zur Auslegung einer in dem übergegangenen Betrieb zwischen Arbeitgeberin und Betriebsrat abgeschlossenen Vereinbarung über die individualrechtliche Fortgeltung der Regelungen in den Gesamtbetriebsvereinbarungen.

4. An die fristlose Kündigung einer Betriebsvereinbarung über Sozialleistungen aufgrund einer verschlechterten wirtschaftlichen Lage der Arbeitgeberin sind strenge Anforderungen zu stellen. Insbesondere hat die Arbeitgeberin auch darzulegen, welche freiwilligen Sanierungsbeiträge ihre Gesellschafter zur Verbesserung der Liquidität geleistet haben.

 

Normenkette

GG Art. 20 Abs. 3; BetrVG §§ 50, 77 Abs. 5

 

Verfahrensgang

ArbG Bonn (Urteil vom 23.12.2009; Aktenzeichen 5 Ca 1603/09)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 23. Dezember 2009 – AZ: 5 Ca 1603/09 wie folgt abgeändert:

a. Es wird festgestellt, dass der klagenden Partei für die Zeit bis zum 31. Dezember 2009 alle Ansprüche aus der Sozialvereinbarung der Lahmeyer AG für Energiewirtschaft vom 11. September 1992 zustehen.

b. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Kosten des erstinstanzlichen und des zweitinstanzlichen Verfahrens tragen die klagende Partei und die beklagte Partei je zur Hälfte.

3. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin weiterhin Leistungen aufgrund einer Gesamtbetriebsvereinbarung aus dem Jahr 1992 zu erbringen hat.

Die Klägerin ist seit dem 1. Februar 1992 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin im Betrieb M als Arbeitnehmerin beschäftigt. Die Klägerin erhielt die Leistungen nach der jeweils gültigen Fassung einer Arbeits- und Sozialvereinbarung.

In der von der damaligen Arbeitgeberin, der Lahmeyer AG, als Gesamtbetriebsvereinbarung zuletzt abgeschlossenen Fassung vom 11. September 1992 sind zusätzlich zu den nach gesetzlichen und tariflichen Vorschriften bestehenden Ansprüchen soziale Leistungen wie Geburtsbeihilfe, Heiratsbeihilfe, Weihnachtsgeldaufstockung, Zulage, Zuschuss bei Notlage und Jubiläumszuwendung geregelt. Zudem wird für den Anspruch auf Alters- und Hinterbliebenenversorgung auf eine gesonderte Betriebsvereinbarung hingewiesen. In der Sozialvereinbarung ist festgelegt, dass sie sowohl insgesamt als auch hinsichtlich einzelner Bestimmungen durch schriftliche Erklärung mit vierteljährlicher Frist zum Ende eines Kalenderjahres gekündigt werden kann.

In dem Betrieb M ist seit 1969 durchgängig ein Betriebsrat gebildet. Durch Vertrag vom 17. Dezember 1993 wurde der Betrieb M von der L A auf die P G übertragen mit der Folge, dass die Arbeitsverhältnisse der beschäftigten Arbeitnehmer auf letztere übergingen. Im Jahr 2000 wurde der Betrieb M abgespalten und von der neu gegründeten T M übernommen mit der Folge eines erneuten Übergangs der Arbeitsverhältnisse der beschäftigten Arbeitnehmer. Später firmierte die T M G zunächst in die R M GmbH und im Jahr 2005 in die D M G., die jetzige Beklagte, um.

Am 21. April 2005 schlossen die damalige R M G und der Betriebsrat folgende Betriebsvereinbarung:

„Das Werk M gehörte bis zum 4. Oktober 1993 (Stichtag) zur L A., bei der eine Sozialvereinbarung in Form einer Gesamtbetriebsvereinbarung vom 11. September 1992 galt. Mit Einbringungsvertrag vom 17. Dezember 1993 wurde der Betrieb in M auf die P G übertragen. Die dortigen Arbeitsverhältnisse sind zum Stichtag auf die P G übergegangen.

Alle bis zum Stichtag eingestellten Mitarbeiter haben gemäß § 613 a Abs. 1 S. 2 BGB ihre Rechte und Pflichten aus dieser Betriebsvereinbarung individualrechtlich behalten. Nach dem Stichtag eingestellte Mitarbeiter sind hingegen nicht in diese Regelung einbezogen worden. Nach Auffassung aller Beteiligten – einschließlich des Betriebsrates – sollte der Inhalt der Sozialvereinbarung im Sinne einer Besitzstandwahrung nur für die bis zum Stichtag eingestellten Mitarbeiter gelten.

Der anstehende Desinvestitionsprozess gibt Anlass, dieses von Anfang an bestehende gemeinsame Verständnis noch einmal zu dokumentieren und folgende Vereinbarung zu treffen:

  1. Die Betriebsparteien bekräftigen entsprechend des bisherigen allseitigen Verständnisses, dass der Besitzstand der bis zum Stichtag eingestellten Mitarbeiter durch § 613 a Abs. 1 S. 2 BGB abgesichert ist. Für diese gilt entsprechend des von Anfang an dokumentierten übereinstimmenden Verständniss...

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