Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen. Erweiterte Wortauslegung und Rechtsfortbildung zu § 18 Satz 2 MuSchG

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Zivilgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen die durch die Grundrechte gezogenen Grenzen zu beachten. Sind bei der gerichtlichen Auslegung und Anwendung von Gesetzen mehrere Deutungen möglich, verdient diejenige den Vorrang, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht und die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung bringt.

2. Erweiterte richterliche Gestaltungsmöglichkeiten bestehen, wenn es darum geht, verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen zum Durchbruch zu verhelfen. Deshalb kann der dreimonatige Referenzzeitraum des § 18 Satz 2 MuSchG zur Ermittlung des durchschnittlichen Verdienstes bei der Berechnung des Mutterschutzlohns auf bis zu zwölf Monate ausgeweitet werden, um einen möglichst umfangreichen Entgeltschutz für Frauen während des gesetzlichen Beschäftigungsverbots sicherzustellen.

 

Normenkette

MuSchG §§ 18, 20; GG Art. 2 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1; AAG § 1 Abs. 2 Nr. 1; TV SMK Nr. 2 § 4

 

Verfahrensgang

ArbG Köln (Entscheidung vom 08.09.2021; Aktenzeichen 18 Ca 3348/20)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 31.05.2023; Aktenzeichen 5 AZR 305/22)

 

Tenor

  • I.

    Unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 08.09.2021 - 18 Ca 3348/20 - auf die Anschlussberufung der Klägerin teilweise abgeändert und hinsichtlich Ziffern 2) und 3) wie folgt neu gefasst:

    1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.593,20 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszins auf einen Betrag von 427,30 € seit 01.10.2021, auf 457,20 € seit 01.11.2021 und auf jeweils 427,30 € seit 01.12.2021, 01.01.2022, 01.02.2022 und 01.03.2022 zu zahlen.
    2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin ab dem 01.03.2022 einen Betrag von 15,24 € brutto täglich als MSG-Pauschale während des Beschäftigungsverbots in der Stillzeit zu zahlen.
  • II.

    Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

  • III.

    Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

(*)

Die Parteien streiten über die Höhe des Mutterschutzlohnes der Klägerin und über die Höhe des Zuschusses zu ihrem Mutterschaftsgeld.

Die am 1988 geborene Klägerin ist seit dem 08.02.2017 als Flugbegleiterin bei der Beklagten tätig. Die Klägerin wird gemäß dem Tarifvertrag Saisonalitätsmodelle Kabine Nr. 2 (TV SMK, vgl. Kop. Bl. 66ff d.A.) mit einem Beschäftigungsquotienten von 83 % im Verhältnis zur tarifvertraglich geregelten Vollzeit beschäftigt, wobei die Klägerin von März bis Oktober des Jahres im Umfang von 100 % der tariflichen Vollzeit und von November bis Februar durch Gewährung von zusätzliche Freistellungstagen im Umfang von lediglich 66 % tariflichen Vollzeit eingesetzt wird.

Das Entgelt der Klägerin besteht aus festen Anteilen (Grundgehalt, Schichtzulage, Zuschuss, Jobticket), Sonderzahlungen und variablen Entgeltbestandteilen (sogenannte Mehrflugstundenvergütung und Bordverkaufsprovision). In den Wintermonaten November bis Februar wird durch die Beklagte gemäß dem Tarifvertrag zur Überleitung der Saisonalitätsmodelle für die Mitarbeiter der Kabine der D L AG (TV Überleitung SMK - siehe Bl. 29 der Akten) ab November 2019 zudem eine monatliche Zahlung von jeweils 400 € geleistet.

Monatlich leistete die Beklagte an die Klägerin folgende Bruttobeträge als Mehrflugstundenvergütung und Bordverkaufsprovision: 893,39 € brutto im Mai 2018,766,41 € brutto im Juni 2018, 413,30 € brutto im Juli 2018, 641,63 € brutto imAugust 2018, 857,45 € brutto im September 2018, 873,70 € brutto im Oktober 2018, 552,46 € brutto im November 2018, 379,80 € brutto im Dezember 2018, 45 € imFebruar 2019, 53,80 € brutto im März 2019 und 9,80 € brutto im April 2019.

Wegen ihrer Schwangerschaft erfolgte ein Beschäftigungsverbot gegenüber der Klägerin ab dem 10.07.2019.

Am 19.02.2020 wurde das Kind der Klägerin geboren. Im Anschluss an die Mutterschutzfrist nach der Entbindung besteht erneut ein Beschäftigungsverbot für die ihr Kind stillende Klägerin.

Die Beklagte zahlte der Klägerin für den Zeitraum vom 10. bis 31.07.2019 die anteiligen fixen Entgeltbestandteilen sowie pauschale Mehrarbeitsvergütung i.H.v.22 € als Mutterschutzlohn bezüglich der variablen Entgeltbestandteilen. In den Monaten August bis Oktober 2019 leistete die Beklagte neben den fixen Entgeltbestandteilen jeweils 30 € als Mehrarbeitspauschale zum Ausgleich der entfallenden variablen Entgeltbestandteilen. In den folgenden Monaten November und Dezember 2019 erhielt die Klägerin zusätzlich jeweils 400 € als Winterzulage. Für den Zeitraum vom01. bis 15.01.2020 leistete die Beklagte an die Klägerin insgesamt 15 € als Mehrarbeitspauschale und 200 € Winterzulage. Im Zeitraum vom 16. 01. bis 28.02.2020 zahlte die Beklagte kalendertäglich 39,67 € als Zuschuss zum Mutterschaftsgeld einschließlich anteiliger Winterzulage. In den Monaten Februar...

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