Entscheidungsstichwort (Thema)

Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Verletzung der Rücksichtnahmepflicht durch Vorlage einer irreführenden ärztlichen Bescheinigung. Vertrauensmissbrauch durch Vorlage einer "vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung". Umfassende Interessenabwägung vor Ausspruch einer Kündigung. Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Auch die Vorlage irreführender ärztlicher Bescheinigungen kann eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht darstellen, die den Arbeitnehmer trifft. Dies gilt insbesondere für Nachweise im Sinne des § 20a Abs. 2 S. 1 IfSG (a.F.).

2. Die Vorlage einer aus dem Internet heruntergeladenen formularmäßigen ärztlichen "vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung", die ohne ärztliche Untersuchung erstellt wurde und den falschen Eindruck erweckt, auf den individuellen Verhältnissen des Arbeitnehmers zu beruhen, kann eine Kündigung rechtfertigen (im Streitfall verneint, da Abmahnung erforderlich).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falls jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.

2. Der Arbeitgeber hat ein berechtigtes Interesse daran, auf die Richtigkeit ärztlicher Bescheinigungen, die der Arbeitnehmer vorlegt, vertrauen zu können. Dieses Vertrauen missbraucht der Arbeitnehmer in grober Weise, wenn er sich durch die Vorlage unrichtiger Bescheinigungen arbeitsrechtliche Vorteile zu verschaffen versucht.

3. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

4. Beruht die Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.

 

Normenkette

BGB § 626; KSchG § 1; IfSG § 20a a.F.; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1, § 4 S. 1, § 6

 

Verfahrensgang

ArbG Minden (Entscheidung vom 27.09.2022; Aktenzeichen 3 Ca 200-22)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Minden vom 27.09.2022 - 3 Ca 200/22 - dahin abgeändert, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auch nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 08.06.2022 beendet wurde.

Die Berufung der Beklagten gegen das vorgenannte Urteil wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob das zwischen ihnen begründete Arbeitsverhältnis durch Kündigungen aufgelöst wurde, die die Beklagte darauf stützen will, die Klägerin habe eine unrichtige Impfunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt.

Die Beklagte betreibt ein Pflegeheim, in dem mehr als 10 Arbeitnehmer vollzeitig beschäftigt sind. Die Klägerin, die am 25.01.1968 geboren und gegenüber einem Kind unterhaltspflichtig ist, war dort seit dem 01.05.2008 - zunächst bei dem Rechtsvorgänger der Beklagten - als Pflegeassistentin beschäftigt. Der Dienstvertrag vom 29.04.2008 nimmt Bezug auf die Bestimmungen des BAT-KF.

Die Klägerin ist nicht gegen das Coronavirus SARS-Cov-2 geimpft. Da sie in einer Pflegeeinrichtung tätig ist, war sie gemäß § 20a Abs. 2 S. 1 IfSG verpflichtet, einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis, ein ärztliches Zeugnis über die Schwangerschaft oder ein ärztliches Zeugnis darüber, dass sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-Cov-2 geimpft werden kann, bis zum 15.03.2022 vorzulegen. Die Beklagte hatte, nachdem eine andere Mitarbeiterin Ende Dezember 2021 eine vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt hatte, die sie über das Internet bezog, am 20.01.2022 im unternehmensinternen Intranet auf derartige Anbieter hingewiesen und vor unrechtmäßigen Bescheinigungen gewarnt. Die A GmbH betrieb die Webseite www.b-c.de (später: www.d-c.de). Die Klägerin erhielt über diese Webseite, nachdem sie die auf der Webseite formularmäßig gestellte Frage verneinte, ob sie ausschließen könne, gegen einen der Bestandteile der Inhalts- oder Hilfsstoffe des ausgewählten Impfstoffes allergisch zu sein, unter anderem eine Bescheinigung über die vorläufige Impfunfähigkeit sowie ein Anschreiben zur Vorl...

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