Die Revision wird zugelassen

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

„Wesentliche” Änderung der Sachlage zwischen dem Zeitpunkt der Stilllegungsentscheidung und derUnterzeichnung des Interessenausgleichs mit Namensliste

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine „wesentliche Änderung der Sachlage” i.S.v. § 125 Abs. 1 S. 2 InsO meint eine Änderung der Geschäftsgrundlage. „Wesentlich” ist die Änderung der Sachlage dann, wenn nicht ernsthaft bezweifelt werden kann, dass beide Betriebsparteien oder eine von ihnen den Interessenausgleich in Kenntnis der späteren Änderung nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten. Nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 125 Abs. 1 S. 2 InsO muss sich die wesentlichen Änderung der Sachlage in der Zeit zwischen Abschluss des Interessenausgleich und Zugang der Kündigung eintreten.

2. War „Hintergrund” und damit Geschäftsgrundlage für die geplante Stilllegung eines Betriebes der Insolvenzschuldnerin nach der Präambel des Interessenausgleiches, „dass eine Fortführung des Betriebes nicht möglich ist und eine übertragende Sanierung auf ein drittes Unternehmen mangels Interessenten nicht durchgeführt werden kann”, dann hat der Insolvenzverwalter den Betriebsrat nicht „umfassend” i.S.v § 111S. 1 BetrVG unterrichtet, wenn er ihm vorenthält, dass bei ihm drei Tage vorher ein konkretes Kaufangebot eines in der Branche bekannten Investors eingegangen ist.

3. Gelingt – wie vorliegend – ausnahmsweise einmal der Nachweis, dass der Betriebsrat nicht umfassend unterrichtet worden ist und/oder dass ihm wichtige Informationen vorenthalten worden sind, dann ist es dem Insolvenzverwalter nach § 242 BGB verwehrt, sich auf die Wirkungen der §§ 125 Abs. 1, 128 Abs. 2 InsO zu berufen. Damit ist die Fallgestaltung der nicht mitgeteilten wesentlichen Änderung der Geschäftsgrunlage bei Abschluss des Interessenausgleichs derjenigen der wesentlichen Änderung der Sachlage nach dem Zustandekommen des Interessenausgleichs gleichzusetzen, so dass § 125 Abs. 1 S. 2 InsO mit der Folge anlaog anzuwenden ist, dass die „doppelte” Vermutungswirkung der §§ 125 Abs. 1, 128 Abs. 2 InsO nicht greift.

4. Kann sich der Insolvenzverwalter nicht auf die Vermutungswirkungen der §§ 125 Abs. 1, 128 Abs. 2 InsO berufen, verbleibt es auch in der Insolvenz bei der „normalen”, abgestuften Darlegungs- und Beweislast, wie sie außerhalb der Insolvenz gilt. Mithin muss der Insolvenzverwalter die behauptete Stilllegung des Betriebes der Insolvenzschuldnerin als betriebsbedingten Kündigungsgrund darlegen und – da bestritten – auch nachweisen (§ 1 Abs. 2 S. 4 KSchG).

 

Normenkette

InsO § 128 Abs. 2, § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; ArbGG § 46 Abs. 2; ZPO § 292 S. 1; InsO § 125 Abs. 1 S. 2 analog; BGB § 613a Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Münster (Urteil vom 18.06.2003; Aktenzeichen 3 Ca 747/02)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 29.09.2005; Aktenzeichen 8 AZR 647/04)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Münster vom 18.06.2003 (3 Ca 747/02) teilweise abgeändert:

Es wird festgestellt, dass die Kündigung des Beklagten vom 25.02.2002, zugegangen am 26.02.2002, rechtsunwirksam ist.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 1/4 und der Beklagte zu 3/4 zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für beide Rechtszüge auf 17.200,00 EUR festgesetzt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers durch den Beklagten und über den unveränderten Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu den bisherigen Arbeitsbedingungen.

Der Beklagte ist der durch Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 01.02.2002 – 72 IN 50/01 – über das Vermögen der im Handelsregister H7x 13xx e1xxxxxxxxxxx O1xxxxxxx und S1xxxxx G4xx & C4. K3 (Insolvenzschuldnerin) bestellte Insolvenzverwalter. Komplementärin der Insolvenzschuldnerin war die im Handelsregister HRB 51x eingetragene S1xxxxx B8xxx-xxxxxxx- und V3xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx m6x, über deren Vermögen durch Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 19.02.2002 – 72 IN 51/01 – das Insolvenzverfahren eröffnet und ebenfalls der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt worden ist.

Die Insolvenzschuldnerin war ein Unternehmen der Holzbearbeitung mit drei Sparten, nämlich o2xx-Color, o2xx-Gard und o2xx-Holz. Sie beschäftigte an den vier Standorten M1xxxxx, P2xxxxxxx, F2xxx und H2xxxxxxxx etwa 800 Arbeitnehmer, davon am Standort M1xxxxx allein rund 480. Bei ihr war der am 01.14.15xx geborene Kläger seit dem 01.05.1993 zunächst als Assistent des Einkaufsleiters beschäftigt und zuletzt als Spartenleiter Holzdesign zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsentgelt in Höhe von 4.300,00 EUR tätig.

Am 14.02.2002 fand eine Sitzung des vorläufigen Gläubigerausschusses statt, in welcher unter anderem beschlossen wurde, den Betrieb in M1xxxxx zum 28.02.2002 vollständig stillzulegen und sämtlichen Mitarbeitern zu kündigen. Unter dem 25.02.2002 wurde zwischen dem beklagten Insolvenzverwalter und den Betriebsräten der Insolvenzschuldnerin an...

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