Entscheidungsstichwort (Thema)

Besonderer Kündigungsschutz eines Wahlvorstandsaspiranten. Außerordentliche verhaltensbedingte Kündigung wegen Geschäftsschädigung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Für Wahlvorstandsaspiranten tritt ein besonderer Kündigungsschutz erst mit deren wirksamer Wahl in einer Betriebsversammlung (§ 17 Abs. 2 BetrVG) oder mit einer Bestellung nach den §§ 16 ff. BetrVG ein.

2. Ein die außerordentliche Kündigung rechtfertigendes Fehlverhalten liegt vor, wenn der Arbeitnehmer in einem ins Internet eingestellten Video-Interview bei Streik.TV bewusst wahrheitswidrig behauptet, im Betrieb des Arbeitgebers seien keine Fachkräfte vorhanden.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 1-2; KSchG § 15 Abs. 3 S. 1; BetrVG § 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Rheine (Entscheidung vom 03.09.2012; Aktenzeichen 3 Ca 319/12)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 31.07.2014; Aktenzeichen 2 AZR 505/13)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Rheine vom 03.09.2012 - 3 Ca 319/12 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit zweier Kündigungen. Der Kläger beruft sich unter anderem auf den besonderen Kündigungsschutz nach § 15 Abs. 3 S. 1 KSchG.

Der am 22.07.1984 geborene, ledige Kläger trat nach einer ersten Tätigkeit vom 18.05. bis zum 15.09.2009 mit Wirkung ab 09.11.2010 erneut als Produktionsmitarbeiter zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt 1.936,93 € in die Dienste der Beklagten. Diese produziert Wellpappe für Verpackungen und Displays und beschäftigt ca. 210 Arbeitnehmer, wovon sehr viele eine abgeschlossene Berufsausbildung besitzen, z. B. als Schlosser, Elektriker und im Bereich der Verpackungsmittelmechanik und -technologien.

Auf Einladung der Gewerkschaft ver.di fand am 10.02.2012 eine Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstandes für eine Betriebsratswahl statt. Zu Beginn wurde in Abwesenheit der beiden Gewerkschaftssekretäre K1 und H1 ein Versammlungsleiter gewählt. Sodann wurde ausweislich eines unter anderem von diesem erstellten Protokolls (Bl. 109 d. A.) einstimmig beschlossen, keinen Betriebsrat zu wählen, und die Versammlung wurde geschlossen. Die zwischenzeitlich eingetroffenen beiden Gewerkschaftssekretäre versuchten laut eines von diesen gefertigten Berichts (Bl. 110 ff. d. A.), die Anwesenden zum Bleiben zu bewegen. Da die Beschäftigten sich in ständiger Bewegung befanden und schon welche gegangen waren bzw. gerade gingen, war es nicht möglich, die genaue Teilnehmerzahl festzustellen. An der folgenden Abstimmung beteiligten sich ca. 50 Arbeitnehmer, wobei auf den Kläger als Kandidaten von ver.di 33 Stimmen entfielen.

Mit einem inzwischen rechtskräftigen Beschluss vom 21.03.2012 (1 BV 1/12) bestellte sodann das Arbeitsgericht Lingen einen Wahlvorstand. Zur Begründung wurde festgestellt, dass anlässlich der Betriebsversammlung ein solcher nicht rechtswirksam gewählt worden sei. Der Kläger, der durch die (auch) antragstellende Gewerkschaft ver.di als Kandidat vorgeschlagen worden war, fand bei der Bestellung des Wahlvorstandes keine Berücksichtigung.

Mit Schreiben vom 17.02.2012, dem Kläger am Folgetag zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.03.2012 (Bl. 5 d. A). Zur Begründung berief sie sich darauf, dass der Kläger am 16.02.2012 "erneut 15 Minuten zu spät zur Arbeit" erschienen sei, nachdem er zuvor am 07.04. und 27.10.2011 wegen einer Verspätung von 22 Minuten (Bl. 88 d. A.) und Nichterscheinens zur Nachtschicht (Bl. 89 d. A.) abgemahnt worden war.

Nach Erhalt der Kündigung nahm der Kläger in den Folgetagen bei der Gewerkschaft ver.di in N1 an einem Treffen mehrerer gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter der Beklagten teil. Anlässlich dieser Zusammenkunft kam es zur Erstellung eines Videos durch Streik.TV, einer online-TV-Sendung, in der im Auftrag von ver.di über gewerkschaftsrelevante Themen berichtet wird. Ausweislich der gefertigten Niederschrift wurden in dem Video unter anderem folgende Äußerungen gemacht:

Hintergrundsprecher:

Auf Wunsch von Mitarbeitern hatte ver.di zu einer Betriebsversammlung bei P1 geladen in Absprache mit der Firmenleitung. Am 10.02. sollte beim Wellpappenhersteller der Wahlvorstand für die Einleitung einer Betriebsratswahl gewählt werden.

L1

Wir haben Probleme mit den Arbeitszeiten, mit Urlaubszeiten, mit Pausenzeiten. Dann haben wir viele Probleme, dass das Vertrauen zu den Mitarbeitern fehlt, da großer Druck von oben aufgebaut ist. Viele Sicherheitsvorkehrungen fehlen an einzelnen Maschinen. Ich möchte fast behaupten, dass keine Maschine zu 100 % ausgerüstet ist. Das Problem ist, dass keine Fachkräfte vorhanden sind und dass das Beherrschen der Maschinen nicht zu 100 % erfüllt wird.

Das Video wurde am 22.02.2012 ins Internet eingestellt und war unter anderem auch bei YouTube zu sehen; bei Google findet sich eine Liste mit 121 Treffern bei kumulativer Suche. Das Video wurde auch über den Facebook-Account des Klägers von diese...

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