Entscheidungsstichwort (Thema)

Kurzfristige Anhörung des erkrankten Arbeitnehmers zwecks Kündigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die ärztlich attestierte Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers als solche schließt dessen Anhörung zu dem dringenden Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung nicht per se aus, und zwar weder die schriftliche Anhörung noch - soweit aus sachlichen Gründen vom Arbeitgeber für erforderlich gehalten - die Anhörung im Rahmen eines Personalgesprächs. Solange dem erkrankten Arbeitnehmer die Teilnahme an einem Personal-/Anhörungsgespräch nicht krankheitsbedingt unmöglich oder unzumutbar ist, kann er dementsprechend gehalten sein, daran teilzunehmen.

2. Infolgedessen ist der Arbeitgeber gehalten, auch bei Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers den Anhörungsprozess durch Einladung zum Personalgespräch oder schriftliche Anhörung einzuleiten bzw. fortzuführen und damit zu klären, ob und welche Hindernisse arbeitnehmerseitig bestehen bzw. mitgeteilt werden.

3. Die bloße Arbeitsunfähigkeit als solche hemmt den Lauf der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht. Unternimmt ein Arbeitgeber, der im Falle fortbestehender Arbeitsfähigkeit den Arbeitnehmer nunmehr zu den Verdachtsgründen angehört hätte, während einer zweiwöchigen Arbeitsunfähigkeitsphase des Mitarbeiters nicht einmal den Versuch einer Anhörung und Kontaktaufnahme, ist die nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit und dann erfolgter Anhörung ausgesprochene außerordentliche Verdachts- und Tatkündigung verfristet und damit unwirksam.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 2, § 140

 

Verfahrensgang

ArbG Wuppertal (Entscheidung vom 11.10.2018; Aktenzeichen 6 Ca 915/18)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 11.06.2020; Aktenzeichen 2 AZR 442/19)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 11.10.2018 - Az: 6 Ca 915/18 - teilweise abgeändert und die Klage hinsichtlich des Weiterbeschäftigungsantrags (Tenor und Antrag des Klägers zu Ziffer 2) abgewiesen.

  • II.

    Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

  • III.

    Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 1/5 und die Beklagte zu 4/5.

  • IV.

    Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses durch die außerordentliche, fristlose Kündigung der Beklagten vom 10.04.2018, den Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers sowie über eine Zahlungsforderung der Beklagten.

Der am 08.06.1964 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 21.08.2000 als Hausmeister im Bereich Facility-Management / Belegwesen zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von zuletzt 2.350,- € bei der Beklagten beschäftigt. Er ist mit einem GdB von 30 gemäß Bescheid der Bundesagentur für Arbeit vom 09.12.2016 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.

Die Beklagte ist ein Einkaufs- und Marketingverbund im Produktionsverbindungshandel mit über 1.200 mittelständischen Mitgliedsunternehmen und mehr als 800 Beschäftigten in ihrem X.er Betrieb, in dem auch ein Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung bestehen.

Der Kläger und sein Arbeitskollege, Herr T., nutzen während ihrer Arbeit tragbare Telefone, die grundsätzlich im "Hausmeisterraum" stationiert sind. Dort befinden sich die Ladestationen. Über den Tag werden die Telefone gewöhnlich vom "Telefoninhaber" mitgenommen. Das Telefon mit der Nebenstellennummer -1780 ist grundsätzlich dem Kläger und das mit der Nebenstellennummer -1734 Herrn T. zugeordnet. Herr T. war in den Monaten Juni bis August 2017 überwiegend arbeitsunfähig erkrankt und befand sich in der verbleibenden Zeit in einer Wiedereingliederung.

Der Kläger war vom Montag, 26.02.2018 bis zum Freitag, 09.03.2018 arbeitsunfähig erkrankt. Er reichte bei der Beklagten hierzu zunächst am 27.02.2018 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 26.02. bis 02.03.2018 ein und am 02.03.2018 eine Folgebescheinigung für die Zeit bis zum 09.03.2018 (Anlage L. 13, Blatt 473 der Akte). Die Beklagte nahm während des Arbeitsunfähigkeitszeitraums keinen Kontakt mit dem Kläger auf, weder bezüglich einer Einladung zu einem Personalgespräch noch überhaupt, um abzuklären, wie lange der Kläger voraussichtlich erkrankt sein würde.

Am 13.03.2018 fand ein Personalgespräch mit dem Kläger in der Personalabteilung der Beklagten in Anwesenheit von Frau B., Frau Q. und dem Betriebsratsvorsitzenden U. statt. Dabei stritt der Kläger ab, eine Glücksspiel-Hotline angerufen zu haben. Am 14.03.2018 fand ein weiteres Gespräch zwischen dem Kläger und Frau B. im Beisein von Frau Q. und Herrn U. statt. Der Kläger stritt weiterhin ab, die Glücksspiel-Hotline angerufen zu haben.

Mit Schreiben vom 16.03.2018 beantragte die Beklagte die Zustimmung zur außerordentlichen Tat- und hilfsweise zur außerordentlichen Verdachtskündigung beim zuständigen Integrationsamt des Landschaftsverbands Rheinland. Am 04.04.2018 bestätigte das Integrationsamt gegenüber der Beklagten den Eintritt der Fiktion gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.

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