Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziale Auswahl. Altersdiskriminierung. Punkteschema. lineare Berücksichtigung des Lebensalters

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 2 Abs. 4 AGG ist nicht europarechtswidrig. Der Diskriminierungsschutz kann im geltenden nationalen Recht durch eine europarechtskonforme Auslegung des Kündigungsschutzgesetzes erreicht werden (anders wohl Aufforderungsschreiben der EG-Kommission vom 31.01.2008 – 2007/23620 K (2008) 0103 –).

2. Das in Art. 2 Abs. 1 RL 2000/78/EG enthaltene europarechtliche Verbot der Altersdiskriminierung steht LS der Verwendung einer Punktetabelle zur Sozialauswahl (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG), die eine lineare Berücksichtigung des Lebensalters vorsieht, nicht im Wege, wenn sie durch legitime Ziele gerechtfertigt ist (vgl. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG).

3. Einer Einzelfallprüfung im Hinblick auf die individuellen Chancen auf dem Arbeitsmarkt bedarf es auch nach Inkrafttreten des AGG nicht. Die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG sind auch bei einer typisierten Betrachtungsweise, wie sie einem Punkteschema eigen ist, erfüllt (im Anschluss an BAG 19.06.2007 – 2 AZR 304/06 – EzA § 1 KSchG Interessenausgleich Nr. 13; BAG 06.09.2007 – 2 AZR 387/06 – EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 78).

 

Normenkette

RL 2000/78/EG Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 3; AGG § 2 Abs. 4

 

Verfahrensgang

ArbG Wesel (Urteil vom 15.02.2007; Aktenzeichen 5 Ca 2891/06)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 05.11.2009; Aktenzeichen 2 AZR 676/08)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wesel vom 15.2.2007 – 5 Ca 2891/06 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf betriebsbedingte Gründe gestützten ordentlichen Kündigung.

Der am 14.04.1961 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger war aufgrund schriftlicher Arbeitsverträge vom 03.08.1990 und 01.10.1993 seit dem 07.08.1990 bei der E.-I. GmbH, einem Bergbauspezialunternehmen mit mehr als 1.200 Mitarbeitern, als Hauer zu einem durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelt von zuletzt 2.880,00 EUR beschäftigt. Über das Vermögen der E.-I. GmbH ist während der Anhängigkeit des Rechtsstreits in zweiter Instanz das Insolvenzverfahren eröffnet worden.

Unter dem 15.08.2006 vereinbarte die jetzige Insolvenzschuldnerin mit dem bei ihr gebildeten Betriebsrat einen Interessenausgleich und Sozialplan. In dem Interessenausgleich heißt es auszugsweise:

„Präambel:

Bei E.-I. ist seit Mitte 2005 eine völlig unzureichende Auftragslage festzustellen. Diese schlechte Auftragslage hat dazu geführt, dass derzeit nur rund 450 Schichten verfahren werden. Seit dem 01.10. 2005 musste für durchschnittlich 600 Mitarbeiter pro Tag Kurzarbeit anmeldet werden. (…)

Aus diesen Zahlen folgt, dass eine Personalreduzierung unumgänglich ist, um eine Insolvenz und eine gänzliche Auflösung von E.-I. zu vermeiden. Notwendig sind nach der Berechnung der Geschäftsführung folgende Maßnahmen:

Auszugehen ist von einem Personalstand per 01.09.2006 in Höhe von 1.700 gewerblichen, 144 Angestellten und 67 Mitarbeitern der Verwaltung. Davon erhalten 205 gewerbliche und 31 unter-Tage-Angestellte das Angebot, in die Anpassung bzw. in die Transfer-KUG 49 zu gehen. Des Weiteren müssen 202 gewerbliche, 42 unter-Tage-Angestellte sowie 24 Mitarbeiter der Verwaltung ausscheiden. (…).

§ 3 Soziale Auswahl

1.

a. In die soziale Auswahl werden aus Rechtsgründen nicht einbezogen Mitglieder des Betriebsrates, der Jugend- und Auszubildendenvertretung sowie Vertrauenspersonen für Schwerbehinderte. Gleiches gilt für Auszubildende und Wehr- und Zivildienstleistende sowie für Frauen während ihrer Schwangerschaft und Arbeitnehmer in der Elternzeit.

b. Ebenfalls nicht in die soziale Auswahl einbezogen werden Mitarbeiter deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen (Schlüsselkräfte), im berechtigten betrieblichen Interesse liegt (§ 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG).

2. Zur sozialen Auswahl der vom Ausscheiden betroffenen Mitarbeiter wird folgender Schlüssel angewandt:

a. Je Beschäftigungsjahr: 1 Punkt Ab dem 11. Dienstjahr je Dienstjahr: 2 Punkte, maximal 70 Punkte.

b. Für jedes volle Lebensjahr: 1 Punkt, maximal 55 Punkte.

c. Die Jahre der Betriebszugehörigkeit und die Lebensjahre werden ab 5/10 auf die nächst höhere Zahl aufgerundet und unter 5/10 auf die niedrigere Jahreszahl abgerundet.

d. Für Ehegatten und für jedes Kind, für das auf der Lohnsteuerkarte 2006 im Zeitpunkt der Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung ein Kinderfreibetrag eingetragen ist, werden zusätzlich 2 Punkte gewährt.

Für Kinder, für die ein halber Kinderfreibetrag eingetragen ist, wird jedoch nur jeweils 1 Punkt gewährt. (…).

§ 4 Personalliste

1. Zur Durchführung der sozialen Auswahl werden Gruppen der vergleichbaren Mitarbeiter gebildet. Die soziale Auswahl findet in den Vergleichsgruppen statt.

2. Die Betriebsparteien stellen eine Personalliste der Mitarbeiter auf, die in den persönlichen Geltun...

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