Entscheidungsstichwort (Thema)

Kein Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 BetrVG bei fehlendem ordnungsgemäßen Widerspruch des Betriebsrats. Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung über die Entbindung nach § 102 Abs. 5 BetrVG. Voraussetzungen des Weiterbeschäftigungsanspruchs nach § 102 Abs. 5 BetrVG. Hinreichende Erfolgsaussicht einer Kündigungsschutzklage. Glaubhaftmachung der anspruchsbegründenden Tatsachen im einstweiligen Rechtsschutz. Offensichtlich unbegründeter Widerspruch i.S.d. § 102 Abs. 5 BetrVG. Widerspruch des Betriebsrats gem. § 102 Abs. 3 BetrVG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Fehlt es an einem ordnungsgemäßen Betriebsratswiderspruch, besteht kein Weiterbeschäftigungsanspruch, weil dieser einen ordnungsgemäßen Widerspruch des Betriebsrats voraussetzt. Nach dem Wortlaut des § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG scheidet damit eine ›Entbindung‹ von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung an sich bereits aufgrund des eigenen Vortrags des Arbeitgebers aus, wenn dieser sich auf das Fehlen eines ordnungsgemäßen Widerspruchs beruft.

2. Dennoch fehlt es auch in diesem Fall nicht am Rechtsschutzbedürfnis für die Entscheidung über die Entbindung nach § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG. Die Frage des Bestehens des Weiterbeschäftigungsanspruchs nach § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG kann insoweit dahingestellt bleiben. Ein Rechtsschutzbedürfnis des Arbeitgebers für einen Entbindungsantrag ist bereits dann zu bejahen, wenn ein Weiterbeschäftigungsanspruch möglicherweise besteht.

3. Ausreichend ist, dass ein auf einen Widerspruch des Betriebsrats gestütztes Weiterbeschäftigungsverlangen des Arbeitnehmers vorliegt und der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage erhoben hat (vgl. LAG Hamburg 9. April 2014 - 6 SaGa 2/14, Rn. 47 mwN).

4. Dies führt zwar uU zu einer isolierten Entscheidung darüber, ob Entbindungsgründe vorliegen, ohne zu klären, ob die zugrundeliegende Weiterbeschäftigungspflicht überhaupt besteht. Doch ist das der besonderen gesetzlichen Regelungstechnik der gerichtlichen Entbindung geschuldet (vgl. LAG Düsseldorf 24. April 2013 - 4 SaGa 6/13, Rn. 4).

5. Der Wortlaut des Entbindungsgrundes von § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BetrVG entspricht dem des § 114 Satz 1 ZPO. Es gelten dieselben Maßstäbe. Mutwillig ist die Klage, wenn ein verständiger Arbeitnehmer sein Recht nicht in vergleichbarer Weise verfolgen würde (Gallner/Mestwerdt/Nägele, 7. Aufl. 2021, KSchR/BetrVG § 102 Rn. 221, 222).

6. Im einstweiligen Verfügungsverfahren muss der Arbeitgeber die Entbindungsgründe glaubhaft machen (§ 294 ZPO). Im Hauptsacheverfahren trägt er die Darlegungs- und Beweislast für diese Gründe.

7. Offensichtlich unbegründet ist ein Widerspruch, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Widerspruch offensichtlich nicht gegeben sind, es also keiner Beweiserhebung bedarf (Fitting, 31. Aufl. 2022, BetrVG § 102 Rn. 120). Tatsachen, zu deren Feststellung eine Beweiserhebung notwendig ist, sind nicht offensichtlich (Gallner/Mestwerdt/Nägele, 7. Aufl. 2021, KSchR/BetrVG § 102 Rn. 224).

8. Beruft sich der Arbeitgeber auf einen offensichtlich unbegründeten Widerspruch des Betriebsrats iSv § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG, muss er den Grund glaubhaft machen, der dafür maßgeblich sein soll. Dazu kann die Vorlage des Widerspruchsschreibens ausreichen, wenn sich etwa im Fall einer rechtsfehlerhaften Geltendmachung eines Widerspruchsgrundes dessen Unbegründetheit bereits aus der Stellungnahme selbst ergibt (Gallner/Mestwerdt/Nägele, 7. Aufl. 2021, KSchR/BetrVG § 102 Rn. 227).

9. Ausschlaggebend für die Frage, ob der Widerspruch des Betriebsrats den Anforderungen des § 102 Abs. 3 BetrVG genügt, ist nicht allein der Wortlaut. Maßgeblich ist, wie der Arbeitgeber den Inhalt des Widerspruchs verstehen musste. Es kommt darauf an, ob der Arbeitgeber die Gesichtspunkte hinreichend erkennen konnte, mit denen der Betriebsrat seine Willensbildung beeinflussen wollte.

 

Leitsatz (redaktionell)

Offensichtliche Unbegründetheit des Betriebsratswiderspruchs setzt voraus, dass sich seine Grundlosigkeit bei unbefangener Beurteilung geradezu aufdrängt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die vom Betriebsrat zur Begründung angeführten Tatsachen unzutreffend sind, etwa wenn ein vom Betriebsrat als frei bezeichneter Arbeitsplatz tatsächlich nicht verfügbar ist oder wenn der Widerspruch auf nicht nachprüfbaren Gerüchten beruht. Gleiches gilt, wenn der Betriebsrat zwar auf einen der Widerspruchsgründe von § 102 Abs. 3 BetrVG Bezug genommen hat, seine rechtliche Subsumtion aber ohne Zweifel unzutreffend ist.

 

Normenkette

BetrVG § 102; ZPO §§ 114, 294; KSchG § 1 Abs. 2; BetrVG § 95

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 05.09.2022; Aktenzeichen 7 Ga 5645/22)

 

Tenor

Die Berufung der Verfügungsklägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 5. September 2022 - 7 Ga 5645/22 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Verfügungsklägerin von einer Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung wegen eines aus ihrer Sicht nicht ord...

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