Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachwirkung von Tarifvertragsnormen nach Wegfall der Tarifbindung

 

Leitsatz (amtlich)

Die vom Bundesarbeitsgericht entwickelten Grundsätze zur Nachwirkung von Tarifverträgen (AP Nr. 34, 38, 40 zu § 4 TVG Nachwirkung; Nr. 8, 9, 11 zu § 3 TVG Verbandsaustritt) gelten einschränkungslos auch dann, wenn die Tarifvertragsparteien nach Beendigung eines Tarifvertrages eine Neuregelung – aus welchem Grund auch immer – überhaupt nicht mehr herbeiführen wollen oder über längere Zeit hinweg zu verhindern suchen und deshalb eine tarifunterworfene Arbeitsvertragspartei aus ihrem Verband austritt, es ihr aber nicht gelingt, mit dem Arbeitsvertragspartner einvernehmlich eine neue Vereinbarung über die Arbeitsbedingungen zu treffen. Verteiler:

 

Normenkette

TVG § 3 Abs. 3, § 4 Abs. 5; MTV für das Backerhandwerk in Baden-Württemberg vom 12.12.1991 § 15

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Urteil vom 26.09.2001; Aktenzeichen 29 Ca 3877/01)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 15.10.2003; Aktenzeichen 4 AZR 573/02)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 26.09.2001 – Aktenzeichen 29 Ca 3877/01 – abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die tarifliche Jahressonderzahlung für das Jahr 2000 in Höhe von EUR 1.587,05 brutto sowie 5 % Zinsen über den Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank hinaus gemäß § 1 des Diskontsatzüberleitungsgesetzes vom 09.06.1998 seit 30.11.2000 zu bezahlen.

II. Die Beklagte hat die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu tragen.

III. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Gewährung eines – der Höhe nach unstreitigen – 13. Monatseinkommens für das Jahr 2000.

Bei der Beklagten handelt es sich um eine … in der Rechtsform der GmbH & Co. KG, welche bis zum 31.12.1997 Mitglied des Landesinnungsverbandes für das württembergische … e.V. war. Dieser hatte mit der Gewerkschaft … … den Manteltarifvertrag für das … in Baden-Württemberg (MTV) vom 12.12.1991 abgeschlossen. Dieser sieht in seinem § 15 100 % eines tariflichen Monatsgehaltes als Jahressonderzahlung vor, wenn ein Arbeitnehmer nach 10-jähriger Betriebszugehörigkeit am 01.12. des laufenden Kalenderjahres in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis steht. Die Jahressonderzahlung ist mit der Entgeltabrechnung per 30.11. auszuzahlen. Nach § 21 MTV sind alle gegenseitigen Ansprüche innerhalb einer Frist von 6 Wochen nach ihrem Entstehen schriftlich geltend zu machen.

Der MTV wurde zum 31.12.1996 gekündigt. Zu einem Abschluss eines neuen Manteltarifvertrages ist es bislang nicht gekommen.

Die Klägerin ist seit 01.10.1984 bei der Beklagten als erste Verkäuferin beschäftigt. Sie ist seit April 1995 Mitglied der Gewerkschaft … und ließ mit Schreiben vom 05.01.2001 (ArbG-Akte Bl. 11/12) unter Berufung auf die §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 5 TVG ihren Anspruch auf die tarifvertragliche Jahressonderzahlung für das Jahr 2000 – allerdings ohne Erfolg – geltend machen. Sie reichte deshalb am 04.05.2001 Zahlungsklage beim Arbeitsgericht Stuttgart ein.

Die Klägerin hat beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin tarifliche Jahressonderzahlung für das Jahr 2000 in Höhe von DM 3.104,00 brutto sowie 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank gemäß § 1 des Diskontsatz-Überleitungs-Gesetzes vom 09.06.1998 seit 30.11.2000 zu zahlen.

Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt.

Sie ist der Auffassung, dass sie nicht mehr an den MTV gebunden sei, weil dieser zum 31.12.1996 gekündigt worden und sie seit 01.01.1998 nicht mehr Mitglied des Landesinnungsverbandes sei, so dass sie sich wirksam von der früheren Tarifbindung gelöst habe. Eine Fortgeltung nach § 3 Abs. 3 TVG sei nicht gegeben, weil der MTV zum 31.12.1996 außer Kraft getreten sei; eine Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG bestehe nicht, weil § 3 Abs. 3 TVG bei einem Verbandsaustritt des Arbeitgebers eine zeitliche Grenze für die Nachwirkung bilde. Eine zeitlich unbegrenzte Nachwirkung würde der Überbrückungsfunktion dieser Vorschrift widersprechen. Auf Grund des Verhältnismäßigkeitsgebotes könne der Arbeitgeber nicht auf alle Zeiten tarifgebunden bleiben. In Anlehnung an § 39 Abs. 2 BGB könne allenfalls an eine zweijährige Bindungsdauer gedacht werden (ab Beendigung des Tarifvertrages), andernfalls hätte § 4 Abs. 5 TVG – ungewollt – Sanktionscharakter.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit seinem am 26.09.2001 und den Klägervertretern am 12.10.2001 zugestellten Urteil (ArbG-Akte Bl. 42 – 49) abgewiesen und dabei unter Darstellung der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen gegensätzlichen Standpunkte zur nachwirkenden Tarifbindung nach einem Verbandsaustritt des Arbeitgebers und einer Beendigung des Tarifvertrages mit Hinweis auf Löwisch/Rieble und Lieb ausgeführt, bei einer Kumulierung der §§ 3 Abs. 3 und 4 Abs. 5 TVG trete eine Regelungslücke auf, welche der Gesetzgeber nicht gesehen habe. Vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 GG wäre es unbillig, einen Arbeitgeber für alle Zeiten zu b...

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