Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamkeit einer vor Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erfolgten Kündigung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber ist gem. § 134 BGB i.V. mit § 17 Abs. 1 KSchG unwirksam, wenn die Kündigungserklärung erfolgt, bevor die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist. Die Kündigungserklärung ist erfolgt, wenn das Kündigungsschreiben unterzeichnet ist. Auf den Zugang der Kündigungserklärung beim Arbeitnehmer kommt es nicht an.

 

Normenkette

KSchG § 17 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Mannheim (Entscheidung vom 27.11.2017; Aktenzeichen 11 Ca 219/17)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 13.06.2019; Aktenzeichen 6 AZR 459/18)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Mannheim vom 27. November 2017 (11 Ca 219/17) abgeändert.

    Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 26. Juni 2017 nicht aufgelöst worden ist.

  2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte das gemeinsame Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 26. Juni 2017 zum 30. September 2017 wirksam kündigen konnte.

Der Kläger, geboren am 24. Juni 1957, verheiratet, war bei der P Produktionsgesellschaft mbH & Co. KG (P) und deren Rechtsvorgängerin seit dem 03. April 1978 beschäftigt. Er war zuletzt stellvertretender Vorsitzender des Betriebsrats. Für den Mai 2017 erhielt er eine Vergütung einschließlich des Urlaubsgeldes in Höhe von 3.546,88 Euro brutto.

Die P wurde am 01. Januar 2004 in Folge eines Betriebsübergangs Arbeitgeberin des Klägers. Komplementärin ist die Produktionsverwaltungs GmbH, Kommanditistin die P & A GmbH & Co. KG in Solingen. Die P stellte Gussteile aus Kupfer, Messing und Bronze her. Sie hatte keinen eigenständigen Marktauftritt und Vertrieb. Die einzigen Auftraggeberinnen waren die Kommanditistin und deren Tochtergesellschaften, die Produktionsgesellschaft S GmbH & Co. KG in S und die F GmbH in Sp.

Am 01. Juni 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der P eröffnet und der Beklagte als Insolvenzverwalter bestellt. Bereits zuvor im Mai 2017 hatte der Beklagte in seiner damaligen Funktion als vorläufiger Insolvenzverwalter dem Betriebsrat einen ersten Entwurf eines Interessenausgleichs zugesandt, weil beabsichtigt war, den Betrieb der P zum 30. September des Jahres zu schließen. Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschäftigte die P 45 Arbeitnehmer.

In den Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs wurde der Betriebsrat sowohl von der Gewerkschaft als auch von einem Rechtsanwalt beraten.

Am 21. Juni 2017 verfasste der Prozessbevollmächtigte des Beklagten in dessen Auftrag folgendes Schreiben an den Betriebsrat:

"Mit diesem Anschreiben möchten wir Sie im Auftrag des Insolvenzverwalters nochmals über die Situation bei der Insolvenzschuldnerin, Ihrer ehemaligen Arbeitgeberin, P... unterrichten. Der Insolvenzverwalter selbst hat Ihnen ja bereits mündlich den Stand mitgeteilt.

Nachdem von ursprünglich 62 Mitarbeitern nur noch 45 Mitarbeiter vorhanden sind, gestaltet sich die Durchführung der weiteren Produktion und Auftragsbearbeitung schwierig.

Die Muttergesellschaft P... und A... hat eine Auftragsauslastung bis Ende September 2017 zugesichert. Danach soll die Produktion gänzlich nach Sp und S verlagert werden, sodass keine weiteren Aufträge in Buchen mehr vorhanden sind.

Deshalb ist die Betriebsschließung für die P... leider die einzige Möglichkeit.

Ein Übernehmer, der sowohl Arbeitnehmer, als auch Gewerbeimmobilie und Maschinenpark übernommen hätte, hat sich leider nicht gefunden. Dies lag wohl hauptsächlich daran, dass die Maschinen nicht der Insolvenzschuldnerin gehörten, sondern der Muttergesellschaft.

Um nunmehr die verbliebenen 45 Mitarbeiter freizusetzen, ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass bei so einer großen Anzahl von Entlassungen vorher eine Anzeige an die Bundesagentur für Arbeit durchgeführt wird. Das entsprechende Formular habe ich bereits ausgefüllt.

Ihre Stellungnahme haben Sie bereits in dem Interessenausgleich vorgenommen, sodass dieses Schreiben lediglich noch als ergänzende Information zu sehen ist.

Sollten Sie zu der Angelegenheit noch Fragen haben, steht Ihnen der Unterzeichner oder der Insolvenzverwalter Dr. E... gerne zur Verfügung."

Am 22. Juni 2017 übergab der Beklagte dem vollständig anwesenden Betriebsratsgremium die letzte Fassung des Interessensausgleichs zur Unterschrift. Danach zogen sich die Betriebsratsmitglieder, der beratende Rechtsanwalt und der Gewerkschaftssekretär zurück. Nach etwa 15 Minuten erschienen sie wieder und gaben den vom Betriebsrat unterzeichneten Interessenausgleich zurück.

Der abgeschlossene Interessenausgleich enthält u.a. folgende Feststellungen:

"§ 2 Gegenstand und Durchführung der Betriebsänderung

Der Betrieb in B... wird zum 30.09.2017 stillgelegt. Auf Grund der Stilllegung entfallen sämt...

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