Entscheidungsstichwort (Thema)

Fehlerhafte Sozialauswahl durch Überschreitung des Wertungsspielraums. Anspruch auf Abgabe eines Angebots zum Abschluss eines Arbeitsvertrages gegenüber einem Schwesterunternehmen nach dessen Beitritt zu einem Interessenausgleich der bisherigen Arbeitgeberin

 

Leitsatz (amtlich)

Bei Zusammentreffen der folgenden Umstände ist ein Fall gegeben, bei dem die soziale Auswahl des Arbeitgebers den von § 1 Abs. 3 KSchG eingeräumten Wertungsspielraum überschreitet und fehlerhaft ist.

1. Beide Arbeitnehmer sind nicht schwerbehindert;

2. der vom Arbeitgeber nicht ausgewählte Arbeitnehmer hat keine Unterhaltspflicht, der ausgewählte Arbeitnehmer hingegen hat vier Unterhaltspflichten bei gleichzeitigem Arbeitsplatzverlust der Ehefrau;

3. der nicht ausgewählte Arbeitnehmer ist seit mehr als 21 Jahren beschäftigt und weist das 11,9-fache der Betriebszugehörigkeit des ausgewählten Arbeitnehmers auf bei einem absoluten Unterschied von über 20 Jahren;

4. das Lebensalter des nicht ausgewählten Arbeitnehmers liegt über 55 Jahren, jedoch noch mehr als fünf Jahre vom regulären Altersrentenbeginn entfernt und beträgt mehr als das 1,25-fache des Lebensalters des ausgewählten Arbeitnehmers bei einem absoluten Unterschied von mehr als 11 Jahren.

 

Normenkette

BetrVG § 77 Abs. 4; BGB §§ 133, 157, 162, 177 Abs. 1, §§ 242, 311 Abs. 1, §§ 315, 329, 421, 622; KSchG § 1 Abs. 3; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2; BetrVG § 112 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 3 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 30.03.2017; Aktenzeichen 15 Ca 5936/16)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 18.09.2018; Aktenzeichen 9 AZR 20/18)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 30.03.2017 - 15 Ca 5936/16 - abgeändert.

    Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger in ihrem Rohwarenlager einen Arbeitsplatz in Vollzeit unter Anerkennung der Betriebszugehörigkeit in der T.-Gruppe seit dem 02.08.1994 anzubieten.

  2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Der Kläger erstrebt mit seinem Hauptantrag seine Einstellung bei der Beklagten auf der Basis einer Zusage der Beklagten im Zusammenhang mit einem Interessenausgleich im Betrieb eines Schwesterunternehmens der Beklagten. Hilfsweise erstrebt der Kläger Entschädigung und Schadensersatz.

Der Kläger ist am 00.00.1958 geboren. Vom 02.08.1994 bis zum 31.12.2016 war er bei der Firma T. M. G. (im Folgenden: Firma T.) als Lagermitarbeiter in Vollzeit beschäftigt. Der Kläger ist geschieden und hat keine Unterhaltsverpflichtungen. Er war Mitglied des bei der Firma T. gebildeten Betriebsrats.

Sowohl die Beklagte als auch die Firma T. sind Töchter der T. I. Bei letzterer handelt es sich um einen US-amerikanischen Pharma-Konzern. Die T. I. bildet zusammen mit der T. M. E. L. (Sitz in I.) die sogenannte T.-Gruppe, die medizinische Geräte produziert und vertreibt und im Juni 2016 weltweit ca. 11 500 Mitarbeiter an 25 Standorten, in Deutschland ca. 640 Mitarbeiter, davon 60 im Warenlager der Firma T. in K., beschäftigte (vgl. Präambel des Interessenausgleichs vom 17.06.2016, Anlage K 2, Blatt 14 bis 25 ArbG-Akte).

Die Firma T. beschloss, ihr Warenlager in K. zum 31.12.2016 zu schließen, und vereinbarte deshalb mit ihrem Betriebsrat am 17.06.2016 einen Interessenausgleich (Anlage K 2, Blatt 14 bis 25 ArbG-Akte). Des Weiteren vereinbarte sie mit ihrem Betriebsrat einen Sozialplan (nicht zur Gerichtsakte gereicht). Dem Interessenausgleich war eine Namensliste der zu kündigenden Mitarbeiter beigefügt, auf der auch der Name des Klägers enthalten war.

Auf Seite 9 des Interessenausgleichs findet sich der folgende Abschnitt IV. (vgl. Blatt 22 ArbG-Akte, die darin genannte W.-R. G. ist die Beklagte im vorliegenden Rechtsstreit):

"IV. Arbeitsplatzangebot bei der W.-R. G.

§ 12

Arbeitsplatzangebot bei der W.-R. G.

12.1. Alle Stellen, die bei T. und bei der W.-R. G. zur Neubesetzung bekannt werden, werden nochmals gesondert ausgeschrieben, sodass die von diesem Interessenausgleich betroffenen Mitarbeiter die Möglichkeit erhalten sollen, sich auf diese offenen Stellen zu bewerben.

12.2. Voraussichtlich werden zwei Vollzeitstellen im Rohwarenlager bei der W.-R. G. zum 01.01.2017 frei. T. und die W.-R. G. sichern - vorbehaltlich der Zustimmung des Betriebsrats der W.-R. G. - zu, dass diese beiden Stellen mit Mitarbeiter von der Namensliste (Anlage 1) nachbesetzt werden, sofern sich diese Mitarbeiter bewerben.

12.3. Bewerben sich mehr als zwei Mitarbeiter auf diese beiden Stellen, werden die sozial schutzwürdigeren Bewerber berücksichtigt (Sozialauswahl analog § 1 KSchG), sofern sie fachlich geeignet sind.

12.4. Die Einstellungen erfolgen unter Anerkennung der Betriebszugehörigkeiten in der T.-Gruppe.

12.5. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Einstellung besteht nicht. T. und die W.-R. G. werden eine Bewerbung der von diesem Interessenausgleich betroffenen Mitarbeiter bei fachlicher und persönlicher Eignung wohlwollend prüfen. Bei gleicher Eignung werden Mitarbeiter, die von...

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