Leitsatz (amtlich)

›1. Ein nicht deliktsfähiges Kleinkind braucht sich weder sein eigenes Verhalten noch das seiner volljährigen Begleitperson im Verhältnis zum Unfallgegner (Kraftfahrer) anspruchsmindernd anrechnen zu lassen.

2. Eine Mithaftung des nicht deliktsfähigen Kindes kommt auch nach §§ 254, 829 BGB regelmäßig nicht in Betracht, wenn der Unfallgegner haftpflichtversichert ist.

3. Zur Höhe des Schmerzensgeldes bei Verletzung eines Kleinkindes (hier: 8.000 DM bei Oberschenkelfraktur rechts, Prellungen; Krankenhausbehandlung von acht Wochen, davon 6 1/2 Wochen in Rückenlage mit hochgelagerten, extendierten Beinen; anschließende krankengymnastische Behandlung; leichter Dauerschaden).‹

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 20.04.1993; Aktenzeichen 31 O 23/92)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 20. April 1993 verkündete Urteil der Zivilkammer 31 des Landgerichts Berlin abgeändert und wie folgt neu gefaßt:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 6.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 9. März 1992 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin den künftigen materiellen Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 15. März 1991 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer übersteigt 60.000,00 DM nicht.

 

Tatbestand

Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§ 543 Abs. 1 ZPO).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin hat Erfolg.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Haftung der Beklagten gegenüber der Klägerin wegen des Verkehrsunfalls am 15. März 1991, gegen 15.00 Uhr, auf der westlichen Richtungsfahrbahn der Markstraße vor der Kreuzung mit der Ungarnstraße in Berlin-Wedding (§§ 7 Abs. 1 StVG, §§ 823, 847 BGB, § 3 Nr. 1, 2 PflichtversG) nicht wegen eines der Klägerin zuzurechnenden Mitverschuldens (§ 9 StVG, § 254 BGB) auf 50 % eingeschränkt, sondern besteht in voller Höhe. Denn die im Unfallzeitpunkt 3 Jahre und 9 Monate alte Klägerin war nach § 828 Abs. 1 BGB nicht deliktsfähig und braucht sich daher weder ihr eigenes Verhalten noch das ihrer Großmutter als Begleitperson als Mitverschulden anspruchsmindernd anrechnen zu lassen.

1. Der Klägerin kann ihr eigenes Verhalten nicht als Mitverschulden angerechnet werden, da sie im Unfallzeitpunkt nicht die erforderliche Zurechnungsfähigkeit besaß. Da Haftungsbegründung und Haftungsbegrenzung korrespondieren, sind die §§ 827, 828 BGB für die Frage der Zurechnungsfähigkeit im Bereich des Mitverschuldens entsprechend anzuwenden (RGZ 108, 89; BGHZ 9, 917; 24, 327; BGH VersR 1973, 925; VersR 1975, 133, 135).

Zwar sind grundsätzlich auch die Regeln der Billigkeitshaftung des § 829 BGB entsprechend anwendbar (BGHZ 37, 102, 106; BGH VersR 1964, 385; BGH FamRZ 1965, 265); nach ständiger Rechtsprechung erscheint es jedoch angemessen, gerade bei der im Rahmen des § 254 BGB nur entsprechenden Heranziehung der Vorschrift des § 829 BGB um so größere Zurückhaltung zu üben, da der Ausnahmecharakter dieser Vorschrift sowie die ihr eigene grundsätzliche Beschränkung einer Korrektur der Haftungsgrundsätze auf solche Fälle, in denen die Billigkeit einer Schadloshaltung nicht nur rechtfertigt, sondern nach den gesamten Umständen des Falles erfordert, was nicht der Fall ist, wenn der Kläger - wie hier - haftpflichtversichert ist (BGHZ 73, 190, 192; BGH VersR 1975, 133, 135; VersR 1982, 441 f.; OLG Karlsruhe RR 1990, 137).

Nach § 828 Abs. 1 BGB ist derjenige, der das 7. Lebensjahr nicht vollendet hat, für einen Schaden, den er, anderen zufügt, nicht veantwortlich. In entsprechender Anwendung dieser Vorschrift auf § 254 Abs. 1 BGB kann der am 16. Juni 1987 geborenen Klägerin, die am Unfalltage (15. März 1991) 3 Jahre und 9 Monate alt war, ihr eigenes Verhalten nicht als Mitverschulden schadensmindernd angerechnet werden.

2. Die Klägerin muß sich ein Verhalten ihrer Großmutter Margarethe S. geboren am 8. November 1922, als Begleitperson ebenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 BGB schadensmindernd anrechnen lassen.

a) Nach ständiger Rechtsprechung (seit RGZ 62, 107) besteht zwar Einigkeit darüber, daß die Vorschrift des § 254 Abs. 2 Satz 2 BGB sich auch auf das Mitverschulden im haftungsbegründenden Vorgang (§ 254 Abs. 1 BGB) bezieht, der Geschädigte sich also ein Mitverschulden von Hilfspersonen im Sinne des § 278 BGB (gesetzliche Vertreter und Erfüllungsgehilfen) auch bei der Schadensentstehung zurechnen lassen muß. Voraussetzung für die Anwendung des § 278 BGB ist jedoch das Bestehen vertraglicher Beziehungen oder einer sonstigen rechtlichen Sonderverbindung zwischen den Parteien im Zeitpunkt des schadensstiftenden Ereignisses; bestehen derartige Beziehungen nicht, kann nach ständiger Rechtspr...

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