Leitsatz (amtlich)

1. Ein Wiedereinsetzungsantrag nach § 329 Abs. 7 StPO kann nicht in zulässiger Weise auf diejenigen Tatsachen gestützt werden, die das Berufungsgericht bereits in seinem Verwerfungsurteil als zur Entschuldigung nicht genügend gewürdigt hat. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der zur Entschuldigung vorgetragene Sachverhalt vom Berufungsgericht im Verwerfungsurteil behandelt worden ist, wenn also das Entschuldigungsvorbringen bereits Gegenstand der gerichtlichen Würdigung - im Sinne einer tatsächlichen inhaltlichen Auseinandersetzung - war.

2. Wiedereinsetzungsvorbringen kann nur dann als bereits “verbraucht„ angesehen werden, wenn dem Berufungsgericht in der Hauptverhandlung ein zumindest seinem wesentlichen Gepräge nach hinreichend konkreter Entschuldigungssachverhalt unterbreitet worden war, anhand dessen es zum Einen seine Verpflichtung zur Amtsaufklärung beurteilen und mit dem es sich zum Anderen in den Urteilsgründen überhaupt “auseinandersetzen„ konnte.

3. Die Frage, ob ein hinzugekommenes Vorbringen lediglich ergänzenden Charakter hat oder neu ist (bzw. dem bisherigen Vortrag ein “anderes Gepräge„ gibt), bedarf stets der Abgrenzung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 06.12.2018; Aktenzeichen (578) 273 Js 5976/17 Ls Ns (20/18))

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 6. Dezember 2018 aufgehoben.

2. Dem Angeklagten wird auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungshauptverhandlung vom 12. November 2018 gewährt.

3. Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.

 

Gründe

Das Amtsgericht Tiergarten verurteilte den Beschwerdeführer am 26. Juli 2018 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Es verschonte den seit dem 7. November 2017 in Untersuchungshaft gewesenen Angeklagten vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft; die ihm im Rahmen der Haftverschonung erteilten Anweisungen hat der Angeklagte bislang erfüllt.

Gegen das vorgenannte Urteil legte der Angeklagte, der eine Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung beantragt hatte, Berufung ein, die er nach einer Erklärung seines Verteidigers gegenüber der Vorsitzenden der Berufungskammer auf den Rechtsfolgenausspruch zu beschränken beabsichtigt. Kurz vor dem Termin zur Berufungshauptverhandlung ließ der Beschwerdeführer durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 6. November 2018 unter Vorlage einiger Unterlagen zu seinen - sich aus seiner Sicht positiv entwickelnden - Lebensverhältnissen vortragen.

Zu dem auf den 12. November 2018, 9.30 Uhr, anberaumten Termin zur Berufungshauptverhandlung erschien der Angeklagte indessen nicht. Mit um 9.07 Uhr auf dem Faxgerät der Geschäftsstelle der Berufungskammer eingegangenem Schriftsatz vom 12. November 2018 hatte der Verteidiger mitgeteilt, dass sein Mandant verhandlungsunfähig erkrankt sei und ein Attest unverzüglich nachgereicht werde.

Im Protokoll der um 9.47 Uhr eröffneten Berufungshauptverhandlung ist vermerkt, dass die Vorsitzende mitgeteilt habe, es liege ein Schriftsatz der Kanzlei Dr. L vor, wonach der Angeklagte verhandlungsunfähig erkrankt sei; eine Nachfrage der Vorsitzenden bei der Geschäftsstelle habe ergeben, dass dort bis um 9.45 Uhr kein ärztliches Attest per Fax eingegangen sei.

Durch um 9.51 Uhr verkündetes Urteil verwarf das Landgericht Berlin die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO, weil der Angeklagte "ungeachtet der (...) Ladung ausgeblieben und nicht in zulässiger Weise vertreten worden" sei. Zur (weiteren) Begründung des Verwerfungsurteils heißt es abschließend: "Ein Nachweis über die vermeintliche Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten am heutigen Tage lag der Kammer nicht vor."

Mit Fax-Schriftsatz vom 13. November 2018 übersandte der Verteidiger ein "Ärztliches Attest zur Vorlage beim Landgericht" des Arztes D vom 12. November 2018, in welchem ausgeführt ist, dass der Angeklagte "vom 12. bis zum 16. November 2018 krankheitsbedingt nicht vernehmungs- und verhandlungsunfähig" sei. Der Verteidiger bat um Mitteilung, ob, da das Attest die Art der Erkrankung nicht benenne, die Bescheinigung "um die Symptomatik (...) ergänzt werden" solle.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 15. November 2018 beantragte der Angeklagte, ihm gegen das (am 14. November 2018 zugestellte) Verwerfungsurteil Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und die Berufungshauptverhandlung erneut durchzuführen. Zugleich legte er für den Fall der Erfolglosigkeit des Wiedereinsetzungsantrags Revision gegen das Verwerfungsurteil ein. Zur Glaubhaftmachung übersandte er ein ("ergänzendes") Attest des vorgenannten Arztes vom 12. November 2018, aus dem "sich die Diagnose der Erkrankung und damit unzweifelhaft di...

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