Leitsatz (amtlich)

1. Der Betroffene in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren hat als Ausdruck des Anspruchs auf ein faires Verfahren grundsätzlich das Recht, sich in jeder Lage des Verfahrens durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen.

2. Unter Umständen ist es dem Betroffenen daher nicht zuzumuten, an einem Hauptverhandlungstermin ohne Beistand seines Rechtsanwalts teilzunehmen, nachdem ein Terminverlegungsantrag wegen Erkrankung des Verteidigers von dem Vorsitzenden des Bußgeldgerichts abgelehnt worden ist. Für die Entscheidung ist maßgeblich, ob die prozessuale Fürsorgepflicht eine Terminverlegung in Ansehung der Erkrankung des Verteidigers geboten hätte.

3. Die Terminierung ist zwar grundsätzlich Sache des Vorsitzenden. Dieser ist aber gehalten, über Anträge auf Terminverlegung nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der eigenen Terminplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung und der berechtigten Interessen der Prozessbeteiligten zu entscheiden.

4. Im Falle einer Zurückweisung eines Terminverlegungsantrages wegen Erkrankung des Verteidigers bedarf es der Darlegung im Verwerfungsurteil gegen den zum Termin nicht erschienenen Betroffenen, warum das Interesse an einer möglichst reibungslosen Durchführung des Verfahrens Vorrang vor dem Verteidigungsinteresse des Betroffenen hat.

 

Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 27.10.2020; Aktenzeichen 297 OWi 473/20)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Oktober 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Der Polizeipräsident in B. hat mit Bußgeldbescheid vom 3. Januar 2020 gegen den Betroffenen wegen einer am 23. September 2019 begangenen fahrlässigen innerörtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung gemäß §§ 41 Abs. 1, 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO i.V.m. §§ 1 Abs. 2 Abschnitt I, 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. Anhang zu Nummer 11 Nr. 11.3.6 BKat eine Geldbuße von 160 Euro, ein Fahrverbot von einem Monat und eine Wirksamkeitsbestimmung nach § 25 Abs. 2a StVG verhängt. Auf den rechtzeitig eingelegten Einspruch hat das Amtsgericht die Hauptverhandlung auf den 27. Oktober 2020 bestimmt. Am 26. Oktober 2020 hat der Verteidiger die Aufhebung des Termins und eine "möglichst weiträumige" Verlegung beantragt, weil er sich plötzlich und unvorhersehbar mit einer überwunden geglaubten Erkrankung konfrontiert gesehen habe, aufgrund derer er auf ärztlichen Rat habe alle beruflichen Termine absagen müssen. Eine Vertretung für ihn habe sich in der Kürze der Zeit für die Hauptverhandlung nicht realisieren lassen. Der Betroffene verfüge nur über eingeschränkte Deutschkenntnisse. Des Weiteren hat sich der Verteidiger mit dem Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung inhaltlich auseinandergesetzt. Zur Hauptverhandlung sind weder der Betroffene noch der Verteidiger erschienen. Das Amtsgericht hat daraufhin den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid vom 3. Januar 2020 nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. In dem Urteil führt das Amtsgericht u.a. aus, dass die Voraussetzungen nach § 74 Abs. 2 OWiG vorgelegen hätten, denn der Verlegungsantrag habe das Ausbleiben des Betroffenen nicht entschuldigen können. Auch habe das Gericht dem kurzfristig eingegangenen Verlegungsantrag des Verteidigers nicht stattgeben müssen, weil kein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe und der begehrten "weiträumigen" Verlegung könne schon wegen der kurzen Verjährungsfristen im Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht nachgekommen werden. Auch sei die Art und die Dauer der Erkrankung des Verteidigers völlig unklar geblieben.

Gegen diese dem Verteidiger am 4. November 2020 zugestellte Entscheidung hat der Betroffene rechtzeitig Rechtsbeschwerde durch den neu mandatierten Rechtsanwalt B., mit dem der erkrankte Rechtsanwalt S. eine Bürogemeinschaft unterhält, eingelegt, mit der Rechtsanwalt B. die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Die Verfahrensrüge stützt er auf folgende Erwägungen: Das Amtsgericht habe unter Verkennung des Rechtsbegriffs der genügenden Entschuldigung den Betroffenen zu Unrecht als nicht entschuldigt angesehen und den Einspruch rechtsirrig nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Der Betroffene habe auf die Auskunft seines früheren Verteidigers vertraut, dass er, der Betroffene, wegen des Verlegungsantrages aufgrund der Erkrankung des Verteidigers nicht zur Hauptverhandlung erscheinen müsse. Auch sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.

II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthaft und gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG iVm. §§ 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht worden.

Soweit aber der Verteidiger die Verfahrensrüge damit begründet, der Betroffene habe auf die Auskunft seines früheren Verteidigers vertraut, er, der Betroffene, müsse wegen des Verlegungsa...

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