Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschwindigkeitsüberschreitung bei "dichtem Auffahren" des Hintermanns

 

Orientierungssatz

Orientierungssätze:

1. Es gibt keinen Rechtssatz, eine dichtes Auffahren durch das nachfolgende Fahrzeug rechtfertige oder entschuldige eine Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

2. Hält das Tatgericht eine Geschwindigkeitsüberschreitung gleichwohl für "nicht vorwerfbar", so hat es die konkreten Umstände in tatsächlicher Hinsicht in einer Weise darzustellen, die den inneren Zusammenhang zwischen dem dichten Auffahren und der Geschwindigkeitsüberschreitung erkennen lässt.

3. Zeigt das Urteil nicht auf, dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung durch ein standardisiertes Messverfahren festgestellt worden ist, so müssen den Gründen die Einzelheiten der Messung in einer Weise zu entnehmen sein, die es dem Rechtsbeschwerdegericht ermöglicht, die Zuverlässigkeit der Beweisgewinnung nachzuvollziehen.

4. Die Beweiswürdigung kann in diesem Fall die Vereinfachungen, die für standardisierte Messverfahren gelten, nicht beanspruchen.

 

Normenkette

StPO §§ 265, 267; OWiG § 71

 

Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 16.03.2023; Aktenzeichen 294 OWi 1163/22)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 16. März 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Polizei Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 26. Juli 2022 gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h (erlaubt: 50 km/h) eine Geldbuße von 260 Euro verhängt und auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 BKatV ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Zugleich ist bestimmt worden, dass das Fahrverbot nach § 25 Abs. 2a StVG wirksam werden soll.

Das Amtsgericht Tiergarten hat ausweislich der Feststellungen nur eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 25 km/ für erwiesen angesehen. In der Beweiswürdigung heißt es insoweit:

"Auf dem Tatvideo ist zu erkennen, dass der Betroffene zunächst gleichbleibend mit einer Geschwindigkeit von etwa 75 Stundenkilometern auf der äußerst rechten Fahrspur fährt, als ein in der mittleren Fahrspur fahrendes Kleinfahrzeug in dem Moment in die rechte Fahrspur wechseln wollte, als sich der Betroffene mit seinem Fahrzeug auf Höhe dieses Fahrzeugs befand, musste das Kleinfahrzeug ruckartig in die mittlere Fahrspur zurücklenken und der Betroffene sein Fahrzeug kurz abbremsen. Dabei ist zu erkennen, dass das messende Polizeifahrzeug so dicht auf den vom Betroffenen geführten PKW auffährt, dass zwar noch das Kennzeichen zu erkennen ist, nicht jedoch der untere hintere Karosserieabschluss des Fahrzeugs des Betroffenen. Nach einem Abbremsen beschleunigte der Betroffene dann das Fahrzeug und fährt über die mittlere in die äußerst linke Fahrspur ein, wobei er das Fahrzeug stark beschleunigt. Ebenfalls ist auf dem Tatvideo zu erkennen, dass die Beschleunigung vom Messwert 1.540 bis 1.600 Meter andauert und der Betroffene sodann die von ihm gefahrene Geschwindigkeit verringert, ohne das Fahrzeug abzubremsen. Während des Spurwechsels von der äußerst rechten in die äußerst linke Fahrspur und eine kurze Fahrtstrecke auf der äußerst linken Fahrspur verringert sich der Abstand des hinterherfahrenden Fahrzeugs nicht. Erst als der Betroffene das Fahrzeug ohne Abbremsung des Fahrzeugs die Geschwindigkeit verringert und schließlich in die äußerste rechte Fahrbahn wechselt, wird der Abstand zum Polizeifahrzeug deutlich größer."

Das Amtsgericht hat den Betroffenen zu einer Geldbuße von 100 Euro verurteilt. Ein Fahrverbot ist nicht verhängt worden. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils enthalten keinerlei Ausführungen zur inneren Tatseite. Ob sich dies im hier gegebenen Fall einer innerorts fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits als durchgreifender und zur Aufhebung des Urteils führender Rechtsfehler erweist, kann offenbleiben. Denn auch die Beweiswürdigung ist unzureichend.

2. So stehen die Feststellungen im Widerspruch zu den erhobenen Beweisen. Während es bei den Feststellungen heißt, der Betroffene habe die zulässige Geschwindigkeit "um 25 Stundenkilometer" überschritten, heißt es bei der Beweiswürdigung, der Betroffene habe, ausgehend von einer Geschwindigkeit von 75 km/h, noch "weiter beschleunigt" (UA S. 3). Bei den Feststellungen, jedenfalls aber bei der Beweiswürdigung, müsste sich somit der über 75 km/h liegende Wert finden, den das Amtsgericht für objektiv erwiesen erachtet. Dies gilt auch für den Fall, dass das Amtsgericht diesen Wert für "nicht vorwerfbar" (UA S. 4) hält. Denn nur, wenn die vom Betroffenen tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit mitgeteilt wird, kann das Rechtsbeschwerdegericht die ...

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