Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendiger Vortrag im Rahmen der Verfahrensrüge wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs bei einem Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG

 

Orientierungssatz

Orientierungssätze:

1. Wird im Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung entbundenen und deshalb nicht erschienenen Betroffenen darauf gestützt, dass das Urteil auf einem in der Terminladung nicht benannten, in der Hauptverhandlung erschienenen und in Abwesenheit des Betroffenen vernommenen Zeugen beruht, muss der Betroffene darlegen, wie er sein Fragerecht ausgeübt und welche Fragen er gestellt hätte.

2. Nimmt der Verteidiger an der Hauptverhandlung teil, bedarf es eines Vortrages dazu, ob er die Rechte des Betroffenen als dessen Vertreter mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht - in Ausübung dieser Vollmacht - wahrgenommen hätte.

3. Stellt der Verteidiger im eigenen Namen Beweisanträge, nimmt er seine Befugnisse als Verteidiger, nicht aber die Rechte des Betroffenen in Ausübung seiner Vertretungsvollmacht wahr. Will der Verteidiger in der Hauptverhandlung (auch) als Vertreter des abwesenden Betroffenen auftreten, muss dies deutlich zum Ausdruck gebracht werden.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; OWiG § 73 Abs. 2, § 74 Abs. 1, § 79 Abs. 3 S. 1, § 80 Abs. 1, 3; StPO § 344 Abs. 2

 

Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 23.11.2022; Aktenzeichen 343 OWi 167/22)

 

Tenor

Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. November 2022 wird verworfen.

Der Betroffene hat die Kosten seiner nach § 80 Abs. 4 Satz 4 OWiG als zurückgenommen geltenden Rechtsbeschwerde zu tragen.

 

Gründe

I.

Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen einen Bußgeldbescheid erlassen, mit dem er dem Betroffenen eine am 15. September 2021 begangene fahrlässige Überschreitung der zulässigen innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit um 21 km/h (nach Toleranzabzug) vorgeworfen und ein Bußgeld von 80,00 Euro festgesetzt hat.

Auf den rechtzeitig eingelegten Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten u.a. eine Hauptverhandlung für den 23. November 2022 bestimmt, zu der es den Betroffenen und seinen Verteidiger geladen hat. Auf Antrag hat das Gericht den Betroffenen von seiner Präsenzpflicht entbunden. Der Verteidiger hat an der Hauptverhandlung teilgenommen.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen der im Bußgeldbescheid genannten Zuwiderhandlung ebenfalls zu einer Geldbuße von 80,00 Euro verurteilt. Er hat gegen die Entscheidung rechtzeitig einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt. Er rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG und einen Verstoß gegen das faire Verfahren. Der Verteidiger führt u.a. aus, dass das Gericht überraschenderweise den Zeugen F., den Messbeamten, geladen habe. In Unkenntnis des Ladungsprogramms habe die Verteidigung auf die Ladung des privat beauftragten Sachverständigen S. zu diesem Hauptverhandlungstermin durch einen Gerichtsvollzieher verzichtet. Der Antrag des Verteidigers auf Aussetzung des Verfahrens wegen der überraschenden Vernehmung des Zeugen und der fehlenden Ladung des Sachverständigen habe die Richterin zurückgewiesen. Auch seinen Antrag auf "Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens über die Fehlerhaftigkeit der Messung" habe das Gericht unter Hinweis auf § 77 StPO (gemeint ist OWiG) abgelehnt, da es zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde war zu verwerfen.

1. Es kann dahinstehen, ob die Verfahrensrüge nach §§ 80 Abs. 3 Satz 1 und 3, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, mit der die Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gerügt wird, zulässig erhoben worden ist. Sie ist jedenfalls unbegründet. Das Amtsgericht hat den Betroffenen weder durch die Ladung und Vernehmung des Zeugen F. noch durch die Ablehnung des Aussetzungs- und des Beweisantrages in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Danach ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nur dann gegeben, wenn festgestellt werden kann, dass dem Betroffenen keine Möglichkeit eingeräumt worden ist, sich zu allen entscheidungserheblichen und ihm nachteiligen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern (Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 80 Rn. 16a, 16c m.w.N.). Zwar ist Art. 103 Abs. 1 GG nach dem Wortlaut als "Jedermann-Recht" ausgekleidet, aber das Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG steht nur demjenigen zu, der eine unmittelbare rechtliche Beziehung zu einem bestimmten Gerichtsverfahren hat, in welchem er dieses Recht beanspruchen kann. Dazu bedarf es einer gesicherten prozessualen Stellung (vgl. Nolte/Aust in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 103 Rn. 21). In einem Bußgeldverfahren förmlich beteiligt ist der Betroffene. Er ist Träger dieses Rechts und nicht sein Verteidiger, auch wenn dessen Interessen als Beistand ebenfalls betroffen sein können (vgl. ...

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