Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unionsneubürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Einkommen ist nach § 11 SGB 2 bei der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nur dann zu berücksichtigen, wenn es tatsächlich als bereites Mittel zur Verfügung steht. Eine fiktive Anrechnung tatsächlich abgelehnter Leistungen scheidet selbst bei schuldhaftem Verhalten aus, vgl. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 - B 4 KG 1/10 R.

2. Ein rumänischer Staatsangehöriger wird als Unionsneubürger vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 bei europarechtskonformer Auslegung nicht erfasst. Das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 i. V. m. Art. 70 EGV 883/2004 schließt eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit aus. Es gebietet, die sozialrechtlich geschuldete Leistung einem Angehörigen eines anderen Mitgliedsstaates unter denselben Voraussetzungen zu gewähren wie dem Staatsangehörigen des zuständigen Staates.

3. Die einem Unionsneubürger nach § 5 FreizügG/EU erteilte Freizügigkeitsbescheinigung berechtigt zum gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Dieser unterliegt allein den Zugangsbeschränkungen nach § 284 Abs. 3 SGB 3 i. V. m. § 39 Abs. 2 bis 4 AufenthG, welche einen nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt begründen. Etwas Anderes gilt nur dann, wenn die Bundesagentur für Arbeit die Erteilung der Erlaubnis einer konkreten Tätigkeit im Rahmen der Vorrangprüfung abgelehnt hat. Ist dies nicht der Fall, so besteht der abstrakte Arbeitsmarktzugang, vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 06. September 2012 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern zu 2. bis 4. die ihnen entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Den Antragstellern zu 2. bis 4. wird Prozesskostenhilfe ab September 2012 unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Straße, A-Stadt gewährt.

 

Gründe

Die vom Antragsgegner am 17. September 2009 gegen den ihm am 11. September 2009 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 06. September 2009 eingelegte Beschwerde mit dem Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 06. September 2012 aufzuheben und den Antrag abzulehnen,

ist gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig.

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat in dem angegriffenen Beschluss zu Recht den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern zu 2. bis 4. weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für den Zeitraum vom 30. Juli 2012 bis 30.11.2012 zu gewähren.

Ist einstweiliger Rechtsschutz weder durch die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt noch die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes (§ 86b Abs. 1 SGG) zu gewährleisten, kann nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung - vorläufige Sicherung eines bestehenden Zustandes -). Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung - vorläufige Regelung zur Nachteilsabwehr -). Bildet ein Leistungsbegehren des Antragstellers den Hintergrund für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz, ist dieser grundsätzlich im Wege der Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zu gewähren. Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache - möglicherweise - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (Conradis in LPK-SGB II, 2. Aufl., Anhang Verfahren Rn. 117).

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr stehen beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusamme...

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