Entscheidungsstichwort (Thema)

Beschäftigungsanspruch einer nicht gegen SARS-CoV-2 geimpften Pflegefachkraft

 

Leitsatz (amtlich)

Solange der Arbeitnehmer die gesetzlichen Tätigkeitsvoraussetzungen gemäß § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG nicht erfüllt, ist der Arbeitgeber berechtigt, ihn durch Ausübung seines arbeitsvertraglichen Direktionsrechts nach Maßgabe der §§ 106 GewO, 315 BGB von der Erbringung seiner Arbeitsleistung bis 31.12.2022 freizustellen.

 

Normenkette

IfSG § 20a; GewO § 106; BGB § 315; IfSG § 20a Abs. 1 S. 1, Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Gießen (Urteil vom 12.04.2022; Aktenzeichen 5 Ga 2/22)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 12. April 2022 – 5 Ga 2/22 – wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens über den arbeitsvertraglichen Beschäftigungsanspruch im ungekündigten Arbeitsverhältnis.

Die Verfügungsbeklagte betreibt eine vollstationäre Pflegeeinrichtung zur Betreuung und Unterbringung älterer und pflegebedürftiger Menschen. Der Verfügungskläger ist in dem Seniorenheim auf der Grundlage des am 25.Juli 2019 geschlossenen Arbeitsvertrages seit dem 01. August 2019 als Pflegefachkraft beschäftigt.

Der Verfügungskläger ist nicht gegen SARS-CoV-2 geimpft. Er hat der Verfügungsbeklagten weder einen Impf- noch einen Genesenennachweis vorgelegt und bei ihm liegt auch keine medizinische Kontraindikation vor, die einer Impfung entgegensteht. Mit Schreiben vom 14. März 2022 stellte die Verfügungsbeklagte den Verfügungskläger ab dem 16. März 2022 bis auf Weiteres widerruflich, längstens bis zum 31. Dezember 2022 von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung unter Hinweis auf § 20 a Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes wegen der fehlenden Immunität ohne Entgeltfortzahlung frei. Dagegen wendet sich der Verfügungskläger mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der er seine Beschäftigung im Seniorenheim begehrt. Von einer weiteren ins Einzelne gehenden Sachdarstellung wird gemäß §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 525, 313 a Abs. 1 ZPO abgesehen, da gegen das Urteil unzweifelhaft kein Rechtsmittel gegeben ist.

Durch Urteil vom 12. April 2022 hat das Arbeitsgericht den Antrag des Verfügungsklägers abgewiesen. Dagegen hat der Verfügungskläger Berufung eingelegt und verfolgt sein Beschäftigungsbegehren als Pflegefachkraft in der Senioren-Residenz A weiter. Die Verfügungsbeklagte verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts.

 

Entscheidungsgründe

A.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Verfügungskläger hat gegen die Verfügungsbeklagte keinen sofort durchsetzbaren Anspruch auf Beschäftigung als Pflegefachkraft in der Senioren-Residenz A in B. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Verfügung liegen nicht vor. Sie erfordern einen Verfügungsanspruch und einen Verfügungsgrund unabhängig davon, ob eine Regelungsverfügung (§ 940 ZPO) oder eine Sicherungsverfügung (§ 935 ZPO) begehrt wird. Die Berufungskammer teilt die Rechtsansicht des Arbeitsgerichts, dass der gemäß §§ 935, 940 ZPO iVm § 62 Abs. 2 S. 1 ArbGG zulässige Antrag unbegründet ist, weil bereits der Verfügungsanspruch (§§ 936, 916 Abs. 1 ZPO) nicht gegeben ist.

I.

Der Arbeitnehmer hat im ungekündigten Arbeitsverhältnis einen von der Rechtsprechung im Wege der Rechtsfortbildung entwickelten Beschäftigungsanspruch aus §§ 611 a Abs. 1, 613, 242 BGB unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 1 und 2 GG (vgl. z. B. BAG, 27.05.2020 – 5 AZR 247/19 – Rn. 23 m. w. N., zit. nach juris). Zwar ist eine einseitige Suspendierung des Arbeitnehmers im bestehenden Arbeitsverhältnis ohne vertragliche Vereinbarung grundsätzlich nicht zulässig. Eine einseitige Berechtigung zur Freistellung ist aber dann gegeben, wenn der Beschäftigung überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen (vgl. z. B. BAG, 17.12.2015 – 6 AZR 186/14 – Rn. 27 m. w. N., zit. nach juris). Aufgrund der gebotenen Rechtsprüfung und der summarischen Sachprüfung in tatsächlicher Hinsicht, ist die Berufungskammer aufgrund des Sachvortrags der Parteien zu dem Ergebnis gekommen (§ 286 Abs. 1 ZPO), dass die Beklagte zur Freistellung des Klägers befugt war.

II.

Der durch die Freistellung bedingte Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art 2, 1 GG) des Verfügungsklägers ist gerechtfertigt. Er dient einem legitimen Zweck und ist zur Erreichung des Zwecks geeignet sowie erforderlich. Er belastet den Verfügungskläger nicht in unzumutbarer Weise und er ist auch insbesondere unter Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit vulnerabler Personen nicht unverhältnismäßig.

1.

Der Verfügungskläger fällt unter das Infektionsschutzgesetz, da es sich bei dem Seniorenheim um eine Einrichtung im Sinne des § 20 a (1) 2 IfSG handelt und er in der Einrichtung als Pflegefachkraft tätig ist.

2.

Die Interessen der Verfügungsbeklagten werden nicht schon durch ein gesetzliches Beschäftigungsverbot geschützt. D...

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