Suizidgefahr kann einstweilige Einstellung oder Aufhebung begründen

Im Ausgangspunkt zutreffend geht das LG davon aus, dass die aus einer Zwangsversteigerung resultierende ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners oder eines nahen Angehörigen gemäß § 765a ZPO zu einer einstweiligen Einstellung des Verfahrens und damit im Beschwerdeverfahren zu der Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses führen kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gefahr der Selbsttötung sich erstmals nach dessen Erlass gezeigt hat oder ob sie schon zuvor latent vorhanden war und sich durch den Zuschlag im Rahmen eines dynamischen Geschehens weiter vertieft hat (BGH NJW-RR 2011, 423).

Tatsachen sind gutachterlich zu klären

Ferner hat es beachtet, dass Beweisangeboten des Schuldners zu seinem Vorbringen, ihm drohten durch die Fortsetzung des Vollstreckungsverfahrens schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders sorgfältig nachzugehen ist, und deshalb ein fachärztliches Gutachten zu der von der Schuldnerin behaupteten Suizidgefahr eingeholt.

BGH geht von Suizidgefahr aus

Von Rechtsfehlern beeinflusst sind jedoch die Erwägungen, mit denen eine Schutzbedürftigkeit der Schuldnerin verneint wird. Dabei geht der Senat davon aus, dass das LG auf der Grundlage des eingeholten fachärztlichen Gutachtens ernsthaft mit einem Suizid der Schuldnerin für den Fall rechnet, dass der Zuschlagsbeschluss rechtskräftig wird und die Schuldner damit ihr Eigentum an dem von ihnen bewohnten Haus endgültig verlieren. Dass es der Einschätzung des Gutachters nicht folgt, die Schuldnerin müsse bei einem Verlust des Hauses ihren Beruf aufgeben, steht dem nicht entgegen. Denn dies betrifft ersichtlich nur die objektiven Folgen eines Eigentumsverlustes, nicht aber deren subjektive Wahrnehmung durch die Schuldnerin. Dem Hinweis des LG, die Schuldnerin überhöhe die Bedeutung des Eigenheims als Lebens- und Existenzgrundlage, lässt sich entnehmen, dass es die Einschätzung des Sachverständigen nicht in Frage stellen wollte, die Schuldnerin werde durch den Verlust des Hauses voraussichtlich in eine schwere emotionale Krise stürzen mit einem enormen Anstieg des Risikos der Ausführung eines Suizidversuchs bzw. Suizids. Andernfalls wäre der angefochtene Beschluss schon wegen rechtsfehlerhafter Beweiswürdigung aufzuheben. Das LG wäre dann nämlich ohne Darlegung eigener Sachkunde und ohne Beratung durch einen anderen Sachverständigen von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen des von ihm gerade wegen fehlender medizinischer Sachkunde beauftragten Gutachters zu der psychischen Verfassung der Schuldnerin und der sich daraus ergebenden Suizidgefahr abgewichen (vgl. BGH NJW 1997, 1446; BGH NJW 1981, 2578).

BGH akzeptiert Erwägungen des LG nicht

Die Schutzbedürftigkeit der Schuldnerin entfällt aber nicht deshalb, weil sie "ihre psychische Erkrankung und eine daraus resultierende Selbstmordgefährdung hinnimmt". Eine solche Sichtweise wird dem in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht gerecht. Die Unfähigkeit, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe die Konfliktsituation situationsangemessen zu bewältigen, verdient auch dann Beachtung, wenn ihr kein Krankheitswert zukommt (BGH NJW-RR 2011, 423). Erst recht gilt dies, wenn die Passivität, was hier in Betracht kommt, Teil des Krankheitsbildes ist.

Abwägungsprozess beim Vollstreckungsgericht erforderlich

Sie enthebt das Vollstreckungsgericht deshalb nicht von der notwendigen umfassenden, an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Würdigung der Gesamtumstände, die sowohl den dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechten als auch den gewichtigen, ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen der anderen Beteiligten des Zwangsversteigerungsverfahrens Rechnung trägt. Im Rahmen dieser Abwägung ist zugleich zu prüfen, ob der Gefahr für das Leben des Schuldners auf andere Weise als durch die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und eine vorübergehende Einstellung der Zwangsvollstreckung begegnet werden kann (vgl. BVerfG NJW-RR 2012, 393). Eine solche – die ernsthafte Gefahr eines Suizids der Schuldnerin in Rechnung stellende – Abwägung enthält der angefochtene Beschluss nicht. Sie ist auch nicht im Hinblick auf die generalisierende Annahme des LG entbehrlich, die Gläubigerinteressen würden unangemessen beeinträchtigt, wenn die Zwangsversteigerung aufgrund eines Untätigbleibens des Schuldners nach (attestierter) Selbstmordgefährdung auf unabsehbare Zeit blockiert wäre. Die im Rahmen von § 765a ZPO erforderliche Abwägung kann nämlich nicht abstrakt erfolgen, sondern muss stets anhand der Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall betroffenen Interessen und Möglichkeiten der Verfahrensgestaltung vorgenommen werden (vgl. BVerfG NZM 2005, 657; BVerfG NJW 2004, 49). In besonders gelagerten Einzelfällen kann sie deshalb dazu füh...

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