Leitsatz (amtlich)

a) Es bedarf der Ausweisung entsprechender Sachkunde, wenn ein Gericht fachkundigen Feststellungen oder fachlichen Schlußfolgerungen eines gerichtlichen Sachverständigen nicht folgen will.

b) Soweit der gerichtliche Sachverständige seinem Gutachten Anknüpfungstatsachen zugrunde legt, deren Berücksichtigung der Tatrichter für falsch hält, ist es Sache des Tatrichters, dem Sachverständigen die richtigen Anknüpfungstatsachen an die Hand zu geben und im Wege eines Ergänzungsgutachtens oder der Anhörung des Sachverständigen den (geänderten) Sachverhalt und dessen Auswirkungen auf das Gutachten mit diesem oder einem anderen Sachverständigen vor Schluß der mündlichen Verhandlung zu klären.

 

Normenkette

ZPO § 411 Abs. 3, § 412 Abs. 1, § 404a Abs. 3

 

Verfahrensgang

KG Berlin (Urteil vom 01.02.1996)

LG Berlin

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 22. Zivilsenats des Kammergerichts vom 1. Februar 1996 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von den Beklagten aus einem Verkehrsunfall vom 17. Januar 1990 Schmerzensgeld und die Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz seiner künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schäden. Die Parteien haben sich in einem Teilvergleich u.a. darauf geeinigt, daß die Beklagten dem Kläger nach einer Quote von 2/3 ersatzpflichtig sind.

Der Kläger, der bereits vor dem Unfall bis 11. September 1989 in nervenärztlicher Behandlung war, macht geltend, er sei bei dem Verkehrsunfall mit dem Kopf gegen die linke B-Säule seines Fahrzeugs geprallt. Wenige Tage danach hätten sich von starken Angstzuständen begleitete Halluzinationen mit linksseitigen starken Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen eingestellt. Seit dem Unfall sei er depressiv und antriebslos. Er könne sich zuhause nicht mehr versorgen und seine Tätigkeit als Geschäftsführer eines Lokales nicht mehr ausüben. Bei ihm liege ein als „Wesensänderung” mit überwiegend kognitiver Hirnleistungsstörung beschriebenes Syndrom (künftig: Wesensänderung) vor, das auf dem Unfall beruhe.

Die Beklagten bestreiten eine Wesensänderung und sind der Ansicht, die jetzt noch geltend gemachten Ersatzansprüche beruhten auf einer unangemessenen Erlebnisverarbeitung (Rentenneurose).

Landgericht und Berufungsgericht (letzteres nach sachverständiger Beratung) haben Ersatzansprüche wegen einer Wesensänderung verneint. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht hat – ausgehend von der zwischen den Parteien vergleichsweise vereinbarten Pflicht der Beklagten zur Erstattung der durch den Unfall verursachten Schäden unter Berücksichtigung einer Mitverursachung seitens des Klägers von 1/3 – offen gelassen, ob die vom Kläger behauptete psychische Beeinträchtigung (Wesensänderung) als bewiesen angesehen werden könne. Jedenfalls sei ein Ursachenzusammenhang der behaupteten Wesensänderung mit dem Unfall nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch unter Berücksichtigung des § 287 Abs. 1 ZPO nicht festzustellen. Der Unfall habe keine hirnorganische Schädigung bewirkt; eine Folgewirkung von „Minitraumen” sei eine nur theoretische Möglichkeit. Bei einem zeitlichen Intervall von etwa 1 Jahr zwischen dem Unfall und dem Auftreten der unterstellten Erscheinungen im Befinden und Verhalten des Klägers komme nur ein psychoreaktiver Zusammenhang in Betracht. Dem Sachverständigen Prof. Dr. D., der einen solchen Zusammenhang in seinem Gutachten bejaht habe, sei jedoch nicht zu folgen. Die maßgebliche (tiefenpsychologische) Aussage, es habe eine unbewußte Identifizierung mit dem bei einem Autounfall verstorbenen Vater stattgefunden, sei weitgehend spekulativ. Der Sachverständige habe selbst eingeräumt, daß eine mit konkreten Voraussetzungen in der Persönlichkeit des Klägers begründbare Aussage nur bei näherer Tatsachenkenntnis möglich sei, die weder durch ein tiefenpsychologisches Gespräch mit dem Kläger zu gewinnen gewesen sei noch über den Inhalt der vorgelegten ärztlichen Berichte hinaus aufgrund Parteivortrags zur Verfügung gestanden habe. Der Sachverständige halte darüber hinaus zwar einen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Zustand des Klägers für zumindest überwiegend wahrscheinlich; diese Aussage sei aber angesichts des spekulativen Charakters der vom Sachverständigen angebotenen Erklärung nicht überzeugend, weil der Sachverständige Umstände berücksichtigt habe, deren Vorliegen zweifelhaft sei. Der Sachverständige habe auch nicht zu erklären vermocht, warum bei gegebener Disposition des Klägers psychische Auswirkungen erst in einem zeitlichen Abstand von nahezu einem Jahr nach dem Unfall pathologisch in Erscheinung getreten seien. Eine Veranlagung des Klägers zur depressiven Krise im Falle sozialer Fehlschläge und Schwierigkeiten reiche nicht aus, darin mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit die Ursache für den unterstellten weitgehenden Persönlichkeitsabbau zu sehen.

Das hält den Angriffen der Revision nicht stand.

II.

1. Von der Revision nicht beanstandet und ohne Rechtsfehler geht das Berufungsgericht aufgrund des zwischen den Parteien vor dem Landgericht abgeschlossenen Teilvergleichs davon aus, daß die Beklagten dem Kläger die durch den Unfall vom 17. Januar 1990 erlittenen Schäden zu ersetzen haben, wobei eine Mitverursachung seitens des Klägers in Höhe von 1/3 zu berücksichtigen ist. Davon werden grundsätzlich auch psychische Schäden der vom Kläger geltend gemachten Art umfaßt.

2. Das Berufungsgericht hat offen gelassen, ob der vom Kläger behauptete Persönlichkeitsabbau (Wesensänderung) eingetreten ist; im Revisionsverfahren ist deshalb von einer Wesensänderung des Klägers auszugehen.

3. Soweit das Berufungsgericht den behaupteten Ursachenzusammenhang zwischen der angeblichen Wesensänderung und dem Unfall verneint, rügt die Revision mit Erfolg Verfahrensfehler. Das Berufungsgericht hat §§ 412 Abs. 1, 411 Abs. 3, 404 a Abs. 3 ZPO verletzt. Dieser Verfahrensverstoß führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

a) Gutachten von Sachverständigen unterliegen der freien Beweiswürdigung (§§ 287 Abs. 1, 286 Abs. 1 ZPO). Dementsprechend darf das Gericht grundsätzlich von dem Gutachten eines Sachverständigen abweichen, wenn es von dessen Ausführungen nicht überzeugt ist. Es bedarf aber der Ausweisung entsprechender Sachkunde, wenn ein Gericht fachkundigen Feststellungen oder fachlichen Schlußfolgerungen eines Sachverständigen nicht folgen will (vgl. Senatsurteil vom 15. März 1988 – VI ZR 81/87 – VersR 1988, 837 unter II 2 a).

Eine zulässige Abweichung des Gerichts vom Gutachten eines Sachverständigen erfordert stets die Darlegung der hierfür maßgeblichen Erwägungen im Sinne einer einleuchtenden und nachvollziehbaren Begründung im Urteil (vgl. für den Fall widersprechender Gutachten Senatsurteil vom 5. Mai 1987 – VI ZR 181/86 – BGHR-ZPO § 412 Obergutachten 1 unter II 2 b), die nicht darauf beruhen darf, daß das Gericht eine ihm nicht zukommende eigene Sachkunde in Anspruch nimmt.

Die Revision weist zu Recht darauf hin, daß das Berufungsgericht für seine Abweichung von dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. D. eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat, ohne diese darzulegen. Zwar gilt das nicht schon für die von der Revision beanstandete Annahme des Berufungsgerichts, es sei weitgehend spekulativ, wenn der Sachverständige davon ausgehe, es liege eine unbewußte Identifizierung des Klägers mit dem Schicksal seines Vaters vor. Der Sachverständige hatte dargelegt, ein „eingehendes” tiefenpsychologisches Gespräch mit dem Kläger sei nicht möglich gewesen, weil – wie sich aus dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen ergibt – der Kläger „nur kurze Antworten” gegeben habe; deshalb hat der Sachverständige „nur mögliche Erklärungen für die psychische Fehlentwicklung gegeben”. Die Revision übersieht, daß das Berufungsgericht mit „spekulativ” die Darlegung dieser bloßen Möglichkeiten in Bezug nimmt.

Dagegen rügt die Revision mit Erfolg, daß das Berufungsgericht ohne Darlegung eigener Sachkunde tatsächliche Umstände anders gewichtet als der Sachverständige, indem es davon ausgegangen ist, entgegen der Auffassung des Sachverständigen habe eine schwerwiegende Belastung des Klägers durch den Unfall nicht bestanden und die Schulterbeschwerden des Klägers seien wegen ihrer Subjektivität nicht geeignet, als Brückensymptom die zwischen dem Unfall und der Erstmanifestation psychischer Probleme liegende Zeit von nahezu einem Jahr auszufüllen. Damit ist das Berufungsgericht von Wertungen, die der Sachverständige aus fachkundiger ärztlicher Sicht getroffen hat abgewichen, ohne daß es die für eine andere Wertung erforderliche eigene medizinische Kenntnis aufgezeigt hat. Das gilt auch, soweit das Berufungsgericht die Belastung des Klägers durch den Unfall (den das Berufungsgericht als „vergleichsweise” glimpflich bezeichnet) anders gewürdigt hat als der Sachverständige u.a. deshalb, weil die „nachhaltigen Schmerzen” in der Schulter mit Besserungstendenz behandelt worden seien. Daß der Sachverständige hier Umstände übersehen hätte, legt das Berufungsgericht nicht dar. Gleiches gilt, soweit das Berufungsgericht prüft, ob eine verzögerte Heilung der Schulter, soziale Desintegration durch Verlust der Arbeitsstelle und Zukunftsangst zur Flucht in die Krankheit geführt hätten, und das verneint, weil eine Disposition des Klägers zur depressiven Krise nicht ausreiche, um den Ursachenzusammenhang mit dem Unfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu bejahen; eine Begründung für diese fachmedizinische These ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Diese Ausführungen hätten mangels eigener Sachkunde des Berufungsgerichts nur nach entsprechender Beratung durch Sachverständige erfolgen können, so daß das Berufungsgericht gegen §§ 287, 411 Abs. 3, 412 Abs. 1 ZPO verstoßen hat (vgl. Senatsurteile vom 14. Februar 1995 – VI ZR 106/94 – VersR 1995, 681 unter II; vom 15. März 1988 – VI ZR 81/87 – a.a.O. unter II 2 b).

b) Hinzu kommt, daß das Berufungsgericht mehrfach eine Verwendung falscher Anknüpfungstatsachen durch den Sachverständigen als Begründung dafür anführt, daß dessen Gutachten nicht zu folgen sei. Die Revision weist zu Recht darauf hin, daß es Sache des Tatrichters ist, dem Sachverständigen die von diesem benötigten Anknüpfungstatsachen vorzugeben (vgl. § 404 a Abs. 3 ZPO). Soweit der Sachverständige Anknüpfungstatsachen wie medizinische Befunde, Zeugenaussagen oder anderes zugrunde legt, deren Berücksichtigung der Tatrichter – etwa weil unbewiesen oder widerlegt – für falsch hält, ist es Sache des Tatrichters, dem Sachverständigen die richtigen Anknüpfungstatsachen an die Hand zu geben und im Wege eines Ergänzungsgutachtens oder der Anhörung des Sachverständigen den aufgrund anderer Anknüpfungstatsachen neuen Sachverhalt und dessen Auswirkungen auf das Gutachten mit diesem oder einem anderen Sachverständigen vor Schluß der mündlichen Verhandlung zu klären. Der Tatrichter ist ohne eigene Sachkenntnis nicht befugt, seine eigene Wertung an die Stelle derjenigen des Sachverständigen zu setzen, und darf weder selbst den neuen Sachverhalt fachlich werten noch das Gutachten des Sachverständigen deshalb ablehnen, weil die anderen Anknüpfungstatsachen die Schlußfolgerung des Sachverständigen nicht mehr tragen würden. Vielmehr fehlt es in einem solchen Falle an einem zu dem vom Tatrichter für richtig gehaltenen Sachverhalt erstatteten Gutachten. Eine Klageabweisung kommt in einem solchen Falle nicht in Betracht, solange die Frage – in Übereinstimmung mit der seitens des Tatrichters im Beweisbeschluß mitgeteilten Rechtsansicht – beweiserheblich geblieben ist.

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verkannt. Es hat den Sachverständigen zu der Ursache des in den fachmedizinischen Äußerungen beschriebenen Beschwerdebildes befragt (vgl. Beweisbeschluß vom 9. Dezember 1993 i.V.m. dem Beweisbeschluß vom 10. Mai 1993, vom 14. Juli 1994 sowie Verfügung des Vorsitzenden vom 17. August 1995). Wenn das Berufungsgericht einen psychiatrisch „leeren” zeitlichen Zwischenraum von fast einem Jahr zwischen dem Unfall und dem ersten Hinweis auf neurologische und psychiatrische Beeinträchtigungen zugrunde legen wollte, mußte es die einzelnen Umstände, aus denen sich diese Wertung ergeben sollte, soweit sie – wie hier – in Widerspruch zu den Unterlagen und den Äußerungen des Klägers bei der Nervenärztin Dr. P. am 21. Februar 1990 standen, dem Sachverständigen (ggfls. nach gesonderter Beweisaufnahme) ebenso vorgeben wie eine nach seiner Ansicht entgegenstehende Äußerung des Klägers im Rechtsstreit, er sei nicht erfolglos auf Arbeitssuche in Westdeutschland gewesen, so daß kein „partielles Scheitern der beruflichen Pläne” der Begutachtung zugrunde zu legen sei. Daß das Berufungsgericht den Sachverständigen teilweise mündlich zu einigen Punkten, insbesondere der Aussage des Klägers vom 11. August 1992 gehört hat, genügte nicht; ohnehin hat das Berufungsgericht die Äußerung des Sachverständigen, es sei erstaunlich, daß der Kläger in einem Parallelprozeß zu dem dort streitigen Versicherungsverhältnis detailliert habe aussagen können, nicht als Änderung seines Gutachtens angesehen. Auch soweit das Berufungsgericht der Auskunft des Nervenarztes Dr. L. vom 6. Juli 1993 anders als der gerichtliche Sachverständige entnommen hat, die nervenärztliche Behandlung sei aus ärztlicher Sicht nicht abgeschlossen gewesen, hätte es diesen Umstand dem Sachverständigen ebenfalls vorgeben bzw. nachträglich abklären müssen, was sich aus dieser Änderung des Sachverhalts nach Ansicht des Sachverständigen ergeben würde.

4. Die Abweisung des Feststellungsantrags hängt nach Ansicht des Berufungsgerichts ebenfalls davon ab, daß die Wesensänderung des Klägers nicht unfallbedingt war. Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält den Angriffen der Revision insoweit aus den bereits erwähnten Gründen nicht stand. Fehl geht lediglich der zusätzliche Einwand der Revision, das Berufungsgericht habe festgestellt, daß die „Schultersymptomatik” nicht abgeklungen war, aus diesem Umstand könnten daher weitere Ansprüche entstehen, die vom Feststellungsantrag des Klägers erfaßt würden. Orthopädische Schäden waren nicht mehr im Streit (§ 314 ZPO).

5. Nach allem hat das angefochtene Urteil keinen Bestand. Die Zurückverweisung der Sache gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, den nach seiner Ansicht maßgeblichen Sachverhalt festzustellen und sachverständiger Wertung – unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurteil vom 30. April 1996 – VI ZR 55/95 – VersR 1996, 990, zum Abdruck in BGHZ 132, 341 vorgesehen) – zuzuführen.

 

Unterschriften

Groß, Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler, Dr. Greiner

 

Fundstellen

Haufe-Index 1502239

NJW 1997, 1446

Nachschlagewerk BGH

MDR 1997, 493

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