Leitsatz (amtlich)

›Die Beurteilung der Frage, ob sich der Geschädigte, der sich wegen der Folgen der Schädigung in eine Heimbetreuung hat begeben müssen, auch ohne den Unfall wegen Altersabbaus in ein Heim hätte begeben müssen, setzt ein ärztliches Fachwissen voraus; der "Eindruck", den der Richter von dem Geschädigten in der mündlichen Verhandlung gewinnt, ist hierfür keine ausreichende Beurteilungsgrundlage. Der Nachteil der Unaufklärbarkeit dieser Frage trifft den Schädiger.‹

 

Verfahrensgang

LG Essen

OLG Hamm

 

Tatbestand

Am 13. September 1992 geriet die damals 82 Jahre alte Klägerin mit ihrem rechten Bein zwischen den rechten hinteren Radkasten und den Zwillingsreifen des Linienbusses der Zweitbeklagten, aus dem sie ausgestiegen war. Dabei wurde das Bein zerquetscht; es mußte oberhalb des Kniegelenks amputiert werden. Zu dem Unfall war es gekommen, weil der Fahrer des Busses, der Erstbeklagte, angefahren war, obwohl eine Plastiktüte, die die Klägerin in der Hand hielt, zwischen den beiden sich schließenden Türhälften des Busses eingeklemmt war. In der Revisionsinstanz ist außer Streit, daß der Unfall auf dem Verschulden des Erstbeklagten beruht.

Die Klägerin ist Rentnerin. Sie hatte bis zu dem Unfall ohne fremde Hilfe ihren eigenen Haushalt in einer 2 1/2-Zimmer-Wohnung geführt. Infolge ihrer unfallbedingten Behinderung kann sich die Klägerin nicht mehr allein versorgen. Sie ist auf eine behindertengerechte Unterkunft angewiesen und lebt deshalb seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, wo sie wegen der Unfallfolgen bis zum 29. Oktober 1992 behandelt worden war, in einem Heim der Arbeiterwohlfahrt. Dort wird sie voll versorgt.

Die Klägerin hat - abgesehen von weiteren Klageansprüchen, die nicht mehr im Streit sind - von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Erstattung des auf monatlich 3.000 DM bezifferten Mehraufwands für die Heimunterbringung verlangt. Das Landgericht hat ihr diesen Anspruch zuerkannt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht den Anspruch auf monatlich 2.630 DM ermäßigt und auf den 31. Dezember 1993 begrenzt. Mit der Revision begehrt die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Weiterzahlung der monatlichen Rente von 2.630 DM über den 31. Dezember 1993 hinaus.

 

Entscheidungsgründe

I. Das Berufungsgericht begründet die zeitliche Begrenzung des Anspruchs der Klägerin auf Erstattung der Mehrkosten der Heimunterbringung mit der Erwägung, daß nach dem Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen habe, davon auszugehen sei, daß sie sich nach menschlichem Ermessen auch ohne den Unfall ab 1. Januar 1994 in eine Heimbetreuung hätte begeben müssen.

II. Diese Erwägung hält den Angriffen der Revision nicht stand.

Die allein noch streitige Frage, ob die Aufwendungen für die Heimunterbringung über den 31. Dezember 1993 hinaus noch den Verletzungen zuzuordnen sind, für die die Beklagten verantwortlich sind, betrifft den Schadensumfang. Sie fällt damit in den Anwendungsbereich des § 287 ZPO, der den Richter freier stellt als § 286 ZPO. Nach § 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO steht die Beweiserhebung im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters; einer Überprüfung dieses Ermessens durch das Revisionsgericht sind enge Grenzen gezogen (vgl. Senatsurteil vom 9. Oktober 1990 - VI ZR 291/89 - VersR 1991, 437, 438). Aber auch im Rahmen der freien Überzeugungsbildung nach § 287 ZPO darf der Tatrichter, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er eine entsprechende Sachkunde auszuweisen vermag (vgl. Senatsurteil vom 15. März 1988 - VI ZR 81/87 - VersR 1988, 837, 838 m.w.N.). Danach ist dem Berufungsgericht, was die Revision zu Recht rügt, hier ein Feststellungsfehler unterlaufen.

Die Beklagten haben in den beiden Vorinstanzen behauptet, daß sich die Klägerin angesichts ihres fortgeschrittenen Alters auch ohne den Unfall bald in eine Heimbetreuung hätte begeben müssen; sie haben diese Behauptung durch ein medizinisches Sachverständigengutachten unter Beweis gestellt. Das Berufungsgericht ist, ohne dieses Gutachten einzuholen, dem von der Klägerin bestrittenen Vorbringen der Beklagten gefolgt. Es hat in freier Würdigung des Sachverhalts entschieden, daß wegen Altersabbaus die Mehrkosten der Heimunterbringung ab 1. Januar 1994 auch ohne den Unfall angefallen wären. Diese Feststellung setzt einen medizinischen Sachverstand voraus, den das Berufungsgericht nicht haben kann. Der "Eindruck", den sich das Berufungsgericht in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin verschafft hat, ersetzt dieses Fachwissen nicht. Der jetzige Zustand der Klägerin kann die Folge des Unfalls sein. Es gilt deshalb auseinanderzuhalten, ob die jetzt erkennbaren Defizite (Schwerhörigkeit, Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens, Verständigungsschwierigkeit) auf den Unfall und die mit dem Unfall verbundene Veränderung der Lebensumstände der Klägerin zurückzuführen sind oder auf einem unfallunabhängigen Altersabbau beruhen. Das kann - wenn überhaupt - nur ein medizinischer Sachverständiger beurteilen.

Bleibt auch nach der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens noch offen, ob sich die Klägerin auch ohne den Unfall bald in eine Heimbetreuung hätte begeben müssen, dann trifft der Nachteil der Unaufklärbarkeit dieser Frage die Beklagten (vgl. Senatsurteil vom 25. April 1972 - VI ZR 134/71 - VersR 1972, 834, 835 m.w.N.). Dies deshalb, weil die Beklagten eine vom gewöhnlichen Ablauf der Dinge abweichende Entwicklung geltend machen. Zum gewöhnlichen Lauf der Dinge gehört nicht, daß sich alte Menschen von einem bestimmten Alter an in eine Heimbetreuung begeben müssen.

III. Das Berufungsurteil war damit aufzuheben und die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um ihm Gelegenheit zu geben, die erforderlichen Feststellungen zu treffen und auf dieser Grundlage erneut zu entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993321

NJW 1995, 1619

BGHR ZPO § 287 Beweiserhebung 2

DRsp I(147)313a

MDR 1995, 479

NZV 1995, 230

VRS 89, 103

VerkMitt 1995, 57

VersR 1995, 681

ES Kfz-Schaden K-1/12

r s 1995, 181

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