Während sich im Fall "Zaunegger" (siehe vorstehend Ziff. 4) der Konflikt zwischen dem BVerfG und dem EGMR allein deshalb im Rahmen hielt, weil das BVerfG in seine Rechtsprechung bereits eine Art "Sollbruchstelle" für den Fall eingebaut hatte, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht so entwickeln sollten, wie man das bei der Schaffung des gemeinsamen Sorgerechts angenommen hatte, kam es bezüglich der Stichtagsregelung in § 10 Abs. 2 S. 1 Nichtehelichengesetz a.F.[42] zu dem deutlichsten Widerstreit der Rechtsauffassungen zwischen den beiden Gerichten im Berichtszeitraum.

[42] Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.8.1969, BGBl I, 1243.

a) Die gesetzliche Regelung

Nach der Bestimmung des § 10 Abs. 2 S. 1 Nichtehelichengesetz a.F., die das Bundesverfassungsgericht mehrfach für mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 6 Abs. 5 GG, vereinbar erklärt hatte,[43] wurde auch nichtehelichen Kindern beim Ableben des Vaters ein Erbersatzanspruch gegen die Erben in Höhe des Wertes des Erbteils zuerkannt, allerdings beschränkt auf die nach dem 1.7.1949 geborenen, im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Nichtehelichengesetzes also nach seinerzeitigem Recht volljährig gewordenen Kinder. Die daraus resultierende Ungleichbehandlung war vom Bundesverfassungsgericht u.a. im Hinblick auf die seinerzeit noch bestehenden praktischen und verfahrensmäßigen Schwierigkeiten beim Nachweis der Abstammung von vor diesem Zeitpunkt geborenen nichtehelichen Kinder sowie damit gerechtfertigt worden, dass das "Vertrauen" des Erblassers und seiner Familie in den Fortbestand der Stichtagsregelung ebenfalls einen gewissen Schutz verdiene.[44]

Nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit wurde die genannte Stichtagsregelung im Hinblick auf die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder mit ehelichen Kindern in der ehemaligen DDR nach Maßgabe von Art. 235 § 1 Abs. 2 EGBGB dahingehend modifiziert bzw. relativiert, dass einem vor dem 3.10.1990 im Gebiet der ehemaligen DDR nichtehelich geborenen Kind die gleiche Erbberechtigung zustand wie einem ehelichen Kind, wenn der Erblasser nach dem 3.10.1990 verstorben war und zu diesem Zeitpunkt im Gebiet der ehemaligen DDR wohnhaft war. Die daraus wiederum resultierende Ungleichbehandlung zwischen denjenigen unehelichen Kindern, deren Erblasser im Zeitpunkt der Wiederherstellung der deutschen Einheit, also am 3.10.1990, in der ehemaligen DDR wohnhaft war, und denjenigen nichtehelichen Kindern, deren Vater dagegen im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wohnte, hat eine Kammer des BVerfG im Jahr 1996 im Hinblick auf die "gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Gesetzgeber bei Erlass des Nichtehelichengesetzes in der Bundesrepublik vorgefunden hat", und diejenigen der "in einer ganz anderen gesellschaftlichen Situation geborenen nichtehelichen Kinder in der ehemaligen DDR" weiterhin für gerechtfertigt erklärt.[45]

[43] BVerfG, Beschl. v. 8.12.1976, BVerfGE 44, 1; BVerfG(K), Beschl. v. 3.7.1996 – 1 BvR 563/96, juris.
[44] Vgl. erneut BVerfG v. 8.12.1976, BVerfGE 44, 1 (31 ff.). Demgegenüber hat es das Gericht allerdings in seinem 10 Jahre später ergangenen Beschl. v. 18.11.1986 (BVerfGE 74, 33) beanstandet, dass einem nichtehelichen Kind ein gesetzliches Erbrecht oder ein Erbersatzanspruch nach seinem Vater nur zustand, wenn bei dessen Tod die Vaterschaft anerkannt, rechtskräftig festgestellt oder das gerichtliche Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft anhängig war, und deshalb die dahingehende, durch das Nichtehelichengesetz in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügte Bestimmung des § 1934c BGB für mit Art. 6 Abs. 5 GG unvereinbar und nichtig erklärt.
[45] BVerfG(K), Beschl. v. 3.7.1996 – 1 BvR 563/96, juris.

b) Der Fall Brauer

Als sich eine 1948 in der ehemaligen DDR nichtehelich geborene Beschwerdeführerin im Jahr 2003 erneut an das BVerfG wandte, weil ihr die Erteilung eines Erbscheins nach ihrem Vater, der die Vaterschaft wenige Monate nach ihrer Geburt anerkannt und mit seiner Tochter regelmäßigen (brieflichen) Kontakt gehabt hatte, deshalb verwehrt wurde, weil dieser im maßgeblichen Zeitpunkt (3.10.1990) in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaft war, wurde auch sie vom BVerfG abschlägig beschieden, und zwar mit dem Argument, die Bestimmung des Art. 235 § 1 Abs. 2 EGBGB bezwecke die Vermeidung von beitrittsbedingten Nachteilen und sei nach wie vor ein hinreichender Grund für die unterschiedliche Behandlung der beiden Gruppen nichtehelicher Abkömmlinge.[46]

Der dagegen angerufene EGMR folgte dem nicht,[47] stellte eine Verletzung des Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) i.V.m. Art. 8 EMRK (Achtung des Familienlebens) fest und erklärte die Anwendung der deutschen Stichtagsregelung generell, also sowohl bezüglich der vor und der nach dem Stichtag 1.7.1949 geborenen als auch bezüglich der vor dem Stichtag in der ehemaligen DDR geborenen nichtehelichen Kinder, für nicht mehr zeitgemäß. Die deutsche Gesellschaft habe sich wie andere europäische Gesellschaften maßgeblich weiter entwickelt und der rechtliche Status nichtehelic...

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