Wenn wir vom Selbstbehalt sprechen, müssen wir uns bewusst machen, dass sich der einheitlich verwendete Begriff zwar jeweils auf den angemessenen Bedarf des Unterhaltspflichtigen bezieht, dieser aber aus einem unterschiedlichen Blickwinkel beurteilt wird. Die oft schmerzhaften Einschnitte in die Lebensgestaltung beim Kindes- und Ehegattenunterhalt folgen aus dem Abhängigkeitsverhältnis der Berechtigten und der Verantwortung des Pflichtigen. Beides ist Teil der eigenen Lebensstellung und bedingt die daraus folgenden Beschränkungen. Der Selbstbehalt dient dann dazu, einen Mindeststandard zu sichern, um eine übermäßige Einschränkung des Pflichtigen in seiner Lebensführung zu vermeiden bzw. ihm beim Kindesunterhalt im Mangelfall das Existenzminimum als Untergrenze zu belassen. Beim Elternunterhalt ist dies jedoch nicht das entscheidende Kriterium. Hier hat der Selbstbehalt die Funktion einer pauschalen Grenze, bei deren Unterschreiten der Unterhalt nicht ohne Einschränkung der eigenen Lebensstellung aufgebracht werden kann. Er begründet damit eine – widerlegliche – Vermutung, dass bei einem die pauschalen Grenzen übersteigenden Einkommen dieses für den Elternunterhalt verfügbar ist.

Der BGH hat den Ansatz eines maßvoll erhöhten Selbstbehalts aufgegriffen und in seinem grundlegenden Urteil vom 23.10.2002[36] um zwei wichtige Eckpfeiler ergänzt:

  1. Maßgebend für den Eigenbedarf ist die Lebensstellung, die dem Einkommen, Vermögen und sozialen Rang des Verpflichteten entspricht. Durch die Inanspruchnahme auf Elternunterhalt braucht dieser keine spürbare und dauerhafte Senkung seines berufs- und einkommenstypischen Unterhaltsniveaus hinzunehmen, solange er keinen nach seinen Verhältnissen unangemessenen Aufwand betreibt oder ein Leben im Luxus[37] führt. Dies ist eigentlich nichts Besonderes, sondern eine Selbstverständlichkeit, die unmittelbar aus § 1603 Abs. 1 BGB folgt.
  2. Um einer Nivellierung unterschiedlicher Lebensverhältnisse entgegenzuwirken, muss der jeweilige Selbstbehalt der individuellen Lebensstellung des Pflichtigen gerecht werden. Dies soll nach der Rechtsprechung des BGH bekanntlich durch einen dynamischen Faktor geschehen, wonach das den unantastbaren Mindestbetrag übersteigende Einkommen nur zu 50 % einzusetzen ist. Erst die Summe aus Sockelbetrag und dem anrechnungsfreien Einkommen bestimmt den Selbstbehalt. Bei der gebotenen regelmäßigen Anpassung an das Einkommens- und Preisniveau bedarf es folglich einer Erhöhung des Sockelbetrages um 200 EUR, damit der Selbstbehalt um 100 EUR steigt. Mit dieser Methode ist der BGH einem vom Deutschen Verein entwickelten Rechenschema[38] gefolgt. Allerdings ist dieses Schema nicht unumstößlich, sondern gilt lediglich als eine praktikable Methode, um zu einem angemessenen Ergebnis zu gelangen.

Folgerichtig hat der BGH diese Grundsätze auch auf die anderen Unterhaltsverhältnisse übertragen, bei denen es an einer persönlichen Verantwortung und Abhängigkeit zwischen Gläubiger und Schuldner fehlt (volljährige Kinder mit selbstständiger Lebensstellung[39] und Enkel[40]). Für eine Einschränkung der eigenen Lebensführung gibt es in diesen Fällen ebenfalls keine Rechtfertigung aus dem Gesetz.

In der öffentlichen Wahrnehmung verbindet sich mit dieser Entscheidung ein großzügiger Maßstab mit einer nur moderaten Belastung der unterhaltspflichtigen Kinder. Die anfangs großzügige Beurteilung wurde jedoch schon früh relativiert durch die Rechtsprechung zum Familienunterhalt.[41] Sie wird auch dadurch relativiert, dass der BGH von einem angemessenen Ausgleich zwischen den Unterhaltsinteressen der Eltern und des Unterhaltspflichtigen spricht[42] – einem Ausgleich, wie es ihn nach der durch § 1603 Abs. 1 BGB gezogenen Belastungsgrenze eigentlich nicht bedürfte.

Nicht der Selbstbehalt, sondern die praktizierte Lebensführung mit den daraus entstandenen Gewohnheiten und damit zusammenhängenden rechtlichen Verpflichtungen bestimmen die eigene Lebensstellung. Wie Gerd Brudermüller zutreffend ausgeführt hat, muss bei durchschnittlichen Einkommensverhältnissen jede hinzukommende Verpflichtung die gewohnte Lebensführung belasten.[43] Getreu dem Motto "nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm" sind nach der Schweizer Rechtspraxis lediglich die Verwandten zum Unterhalt heranzuziehen, denen aufgrund ihrer "Einkommens- und Vermögenssituation eine wohlhabende Lebensführung möglich ist".[44] Dass es hieran fehlt, ließe sich bei uns anhand der tatsächlichen Ausgaben für eine nicht luxuriöse Lebensführung belegen. Nur scheint der Gedanke, dies durch ein Haushaltsbuch nachzuweisen, nicht sehr verbreitet zu sein.

[37] Luxus (lat.): üppige Fruchtbarkeit, Pracht, Ausschweifung, Schlemmerei.
[38] Empfehlungen des Deutschen Vereins für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe, FamRZ 2000, 788 (796) Ziff. 121; Empfehlungen des 13. Deutschen Familiengerichtstages FamRZ 2000, 274 I, 4.

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