Auch wenn Thema dieser Veranstaltung die Herausforderungen der Reproduktionsmedizin sind, ergibt sich die Reformbedürftigkeit der lex lata nicht nur aus den Veränderungen in den Fortpflanzungsmöglichkeiten durch die Medizin und auch nicht nur aus der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als Grundalge für die Familie und sogar für die Ehe. Vielmehr ist das geltende Abstammungsrecht schon allein durch die gewandelten gesellschaftlichen Einstellungen zu Sexualität, Fortpflanzung, Paarbeziehung und Elternschaft[2] in einer Reihe von Aspekten in Frage gestellt[3] – beispielhaft genannt sei hier nur die grundsätzlich nur durch Anfechtung zu beseitigende Vaterschaft des Ehemannes auch in den Fällen, in denen das Ehepaar schon lange getrennt lebt. Hinzu kommt, dass durch kleinere Reformen – u.a. teilweise erstens im Hinblick auf reproduktionsmedizinische Maßnahmen (erwähnt sei nur die Samenspende mit den in sich wenig konsistenten Regelungen in §§ 1600 Abs. 4 und 1600d Abs. 4 BGB), zweitens teilweise wegen des Bedeutungswandels der genetischen Elternschaft (Stichwort: Auskunfts- und Kontaktrecht des genetischen Vaters, keine Rechte der genetischen Mutter) und drittens teilweise als Schutz bei ungewollter Mutterschaft (Stichwort: vertrauliche Geburt)[4] ein Konglomerat von Regelungen entstanden ist, das kaum noch grundlegende Prinzipien erkennen lässt.[5] In der Stellungnahme des Ausschusses Familienrecht des DAV wird von "unverständlichen Insellösungen" gesprochen, auch von einem "inkohärenten Flickenteppich" ist die Rede.[6]

Betont sei die breite Reformbedürftigkeit dieses Rechtsgebiets – ungeachtet der besonderen Ausrichtung der Veranstaltung des DAV auf die Fortpflanzungsmedizin – vor allem deswegen, weil es kontraproduktiv erschiene, eine Reform nur auf die Besonderheiten der Reproduktionsmedizin zu fokussieren, wie dies beispielsweise der Familienbund der Katholiken in seiner Stellungnahme zum Diskussionsteilentwurf des BMJV gefordert hat. Auch die Äußerungen des Justizministers lassen befürchten, dass jedenfalls zunächst wieder nur an einzelnen Problemen (wie der Mutterschaft bei lesbischen Paaren) gearbeitet werden soll.

Wie schwer ein ausgewogenes System von Regelungen in diesem Bereich auch zu gestalten sein mag, der Gesetzgeber muss Farbe bekennen, welche Aspekte bei der rechtlichen Zuordnung von Eltern und Kindern welches Gewicht haben sollen. Ohne grundsätzliche Entscheidungen hierzu besteht die Gefahr, dass ein Flickenteppich mit Löchern und Stolperknoten weiter gewoben wird.

[2] Zum Wandel der Leitvorstellungen zu Art. 6 Abs. 2 GG von einer ehelichen Familiengemeinschaft mit leiblichen Kindern hin zu einer familiären Verantwortungsgemeinschaft von Kind und Eltern: von Landenberg-Rohberg, Elternverantwortung im Verfassungsstaat, 2021, S. 291 ff., 746; zum historischen Rückblick: D. Schwab, FF 2022, 53.
[3] Dazu u.a. Helms, Gutachten zum 71. DJT 2016, F7 ff., 12; Biggel/Dietzen/Frech/Lober/Patzel-Matern/Schulz/Weller, AcP 221 (2021), 765, 766; Oldenburg, FK (Familienrecht kompakt) 2022, 1 f.; Grziwotz, FF 2022, 63 ff.
[4] Biggel u.a., AcP 221 (2021), 765, 767.
[5] Dazu u.a. Gutachten 71. DJT, 2016, Bd. 1, S. 69 ff.; Arbeitskreis Abstammungsrecht, Abschlussbericht 2017, S. 23 ff.; Coester-Waltjen, ZfPW 2021, 129, insbes. 132 ff.
[6] Biggel u.a., AcP 221 (2021), 765, 769.

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