Leitsatz 1:

Im Unterhaltsrecht wird der Bedarf für den Unterhalt minderjähriger Kinder nach Unterhaltstabellen bestimmt. Sie dienen, als technisches Hilfsmittel, zur Bestimmung der durchschnittlichen Lebenshaltungskosten, sind, auch für außergerichtliche Vereinbarungen, eine Orientierungsrichtlinie und gewährleisten zugleich die Rechtssicherheit und Vergleichbarkeit von Unterhaltsentscheidungen und -vereinbarungen; bei Besonderheiten des Einzelfalls kann von ihnen abgewichen werden.[13] Angesichts der in die Millionen gehenden Anzahl unterhaltsberechtigter Kinder muss – wie H. Scholz formuliert[14] – der Kindesunterhalt nach einfach zu handhabenden Maßstäben erfolgen.

Auch bei gerichtlichen wie außergerichtlichen Regelungen des Umgangs geht es um Millionen von Kindern und daher ist es verständlich, wenn auch hier nach altersbezogenen Tabellen, zumindest nach pauschal gefassten Regeln und Empfehlungen gefragt wird und wurde. Vor allem in den 80er- und 90er-Jahren sind solche Regeln und Empfehlungen denn auch häufig ausgesprochen worden.[15] Inzwischen hat man sich von solchen altersbezogenen pauschalen Empfehlungen mehr und mehr distanziert.[16] Hintergrund für diese Abkehr war vor allem die in empirischen Untersuchungen außerhalb Deutschlands sich durchsetzende Erkenntnis: Zwischen Häufigkeit und Intensität des Umgangs und den verschiedenen Aspekten des Kindeswohls bestehen keine oder nur schwache Zusammenhänge; allzu pauschale/robuste Empfehlungen für Umgangsregelungen können möglicherweise sogar schädlich sein.[17] Das gilt auch für Übernachtungen des Kindes beim umgangsberechtigten Elternteil. Neueren empirischen Befunden zufolge[18] verbessern Wochenendbesuche mit Übernachtung das Verhältnis des Kindes zum Umgangsberechtigten nur unwesentlich, während für das Verhältnis des Kindes zum betreuenden Elternteil erhebliche Nachteile drohen.

Nach alledem ist die Hinwendung des KG Berlin, jedenfalls des 17. FamS, zu einer Regelannahme für Übernachtungen beim umgangsberechtigten Elternteil eher ein Rückschritt, ja eine Rolle rückwärts in die 80er- und 90er-Jahre. Mit keinem Satz berücksichtigt der Berliner Senat die hier skizzierte Entwicklung, die zunehmend in pauschalierten Umgangsvorgaben einen Irrweg sieht und es gebietet, auf den Einzelfall abzustellen.[19] Insbesondere das schon zitierte BVerfG hat mehrfach betont: Über Dauer und Häufigkeit der Umgangskontakte kann nur nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls entschieden werden. Allerdings greifen auch die Gerichte und Autoren, die jede Schematisierung ablehnen, dann doch wieder auf Standards oder auf Minima zurück.[20] Das macht deutlich, wie schwer es Gerichten und Autoren fällt, konsequent auf jede pauschalierende Orientierung zu verzichten.

Wie die zahlreichen Entscheidungen[21] und die häufige Kommentierung zur Übernachtung des Kindes[22] signalisieren, geht es oft um diese Frage, wenn Umgangsregelungen oder Umgangsvereinbarungen anstehen. Wie die Entscheidungen und Kommentierungen auch ergeben, sind die Kriterien für Übernachtungsregelungen sehr zahlreich. So ist zu fragen und zu prüfen:

Wie alt ist das Kind?
Wie weit sind der Wohnort des betreuenden Elternteils und der Ort des Umgangs voneinander entfernt?
Welche wohnliche Situation besteht am Ort des Umgangs?
Welches Streitpotential erwächst bei Übernachtungen des Kindes?
Wird das Kind durch Übernachtungen belastet? Wenn ja, wieso kommt es hierzu?
Stehen gesundheitliche Probleme des Kindes wie des Umgangsberechtigten Übernachtungen im Wege?
Wie sieht, von der Übernachtung abgesehen, die sonstige Umgangsregelung aus?
Wenn schon Übernachtungen stattgefunden haben: Wie sind sie verlaufen? Ist es hierbei zu sog. Auffälligkeiten gekommen?
Werden bei der Übernachtung Dritte zugegen sein (z.B. neue Partner oder Geschwister)?
Welche Wünsche hegt das Kind hinsichtlich von Übernachtungen während des Umgangs?
Wie ist, generell gesehen, das Konfliktniveau zwischen Betreuendem und Umgangsberechtigtem?
Wie sind, wiederum generell gesehen, die emotionalen Bindungen des Kindes zum Umgangsberechtigten?
Bestehen besondere Umstände, die in den vorangegangenen Fragen noch nicht angesprochen wurden?

Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte müssen die Gerichte im Streitfall entscheiden. Dabei müssen sie dem Wohl des Kindes und seiner individuellen Situation gerecht werden, aber zugleich die Grundrechtspositionen der Eltern berücksichtigen.[23] Auch das Verfahren ist so zu gestalten, dass "möglichst zuverlässig" die Grundlagen einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung zu erkennen sind.[24]

In seinem Beschluss geht das KG zwar auf etliche der hier erwähnten Gesichtspunkte ein – auf die Wohn- und Schlafverhältnisse beim umgangsberechtigten Vater, auf die Wünsche des Kindes, die generelle Ablehnung des väterlichen Umgangs durch die Mutter sowie auf das Argument, dass der Vater, auch in seiner Wohnung, raucht und hierdurch die Gesundheit des Kindes, das unter Asthma leidet, gefährden dürfte. ...

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