In Bezug auf die familienrechtspsychologische und forensisch-psychiatrische Begutachtung handelt es sich traditionell um zwei unterschiedliche Vorgehensweisen mit nicht identischen Schwerpunktsetzungen:[1]

Die familienrechtspsychologische Sachverständigentätigkeit beinhaltet so gut wie immer die Begutachtung des gesamten Familiensystems, und zwar meist (nur) in den durch Gerichtsbeschluss genannten zwei Generationsebenen von Eltern und Kind,[2] während in der psychiatrischen Expertise eher die dyadische Begutachtung einzelner Personen im Kontext zum Psychiater im Vordergrund steht.

Andererseits gibt es mittlerweile etliche Gemeinsamkeiten im gutachtlichen Vorgehen und vor allem im formalen Aufbau eines Gutachtens,[3] wobei insbesondere in den letzten 10 bis 15 Jahren deutliche Annäherungen in beiden gutachtlichen Vorgehensweisen erfolgten, wenn beispielsweise der psychiatrische Sachverständige im Rahmen einer Begutachtung ein klinisches Krankheitsbild eines Elternteils im Kontext zu dessen Erziehungsfähigkeit beurteilt.[4]

Dann müssen allerdings über die übliche Krankheitslehre hinaus auch Kenntnisse der Familienpsychologie und Familiendiagnostik vorliegen. Dennoch behandelt die medizinisch-psychiatrische Wissenschaft z.T. die familienrechtliche Begutachtung durch Psychiater immer noch stiefmütterlich.[5] In dem renommierten Lehrbuch von Müller/Nedopil[6] wird z.B. nur auf einer einzigen des insgesamt 539 Seiten umfassenden Werkes das dort – zu allem Überfluss – schon längst nicht mehr aktuelle Familien- und Sorgerecht sowie die Adoption angesprochen.

Mit Durchsetzung der Systemtheorie seit den 1940er-Jahren[7] und des systemischen Denkens[8] etablierte sich bereits vor mehr als 20 Jahren auch in der familienrechtspsychologischen Begutachtung ein familienpsychologisches und familiendiagnostisches Verständnis und Vorgehen, während bis heute noch in der forensischen Psychiatrie eher die Diagnostik einer seelischen Erkrankung von Familienmitgliedern, vor allem die der Eltern bzw. eines Elternteils im Vordergrund steht.

Dieser Entwicklung folgte dann allerdings in den letzten 10 bis 15 Jahren die Überzeugung aus Sicht der Juristen und Sachverständigen, dass nicht allein die Diagnose einer seelischen Erkrankung entscheidend ist, sondern die Auswirkungen von seelischen Erkrankungen auf die Familienmitglieder, vor allem auf die Kinder.[9]

Aus medizinischer Sicht gewannen im Kontext und mit Blick auf diese Entwicklung beispielsweise Fragen und Ergebnisse der High-Risk-Forschung,[10] Resilienz- und Bewältigungsforschung[11] sowie der Vulnerabilitätsforschung[12] in Begutachtungsfällen der Familiengerichtsbarkeit an Bedeutung.

[1] Dr. Rainer Balloff, Institut Gericht & Familie GbR – Berlin: Überarbeiteter Vortrag, gehalten anlässlich der "14. berliner psychiatrietage" vom 17.1. bis 19.1.2019 mit dem Veranstaltungstitel "Die Psychiatrische Begutachtung. Der Vortragstext des Autors lautete: Psychologische Begutachtung im Kontext Gericht und Familie."
[2] Obwohl in § 1626 Abs. 3 BGB ausdrücklich bei Fragen des Umgangs des Kindes eine Mehrgenerationenperspektive und eine über die Verwandtschaft des Kindes hinausgehende Verbindung zu anderen Bezugspersonen gemeint ist, also z.B. Großeltern, Tante, Onkel und andere Personen zu denen das Kind Beziehungen hat (der in der Vorschrift genannte Bindungsbegriff kann nur ein erweiterter Beziehungsbegriff sein, der nicht mit dem von John Bowlby postulierten Bindungsbegriff übereinstimmt).
[3] Hoffmann-Richter, Die psychiatrische Begutachtung, 2005, 101 ff.
[4] Hoffmann-Richter/Pielmaier, Die psychiatrisch-psychologische Begutachtung, 2016, S. 39 f., 45 ff.
[5] Von 0efele, Forensische Psychiatrie, Lehrbuch für die klinische und gutachtliche Praxis, 2011, 119 ff.; Becher/Ludolph, Grundlagen der ärztlichen Begutachtung. Nach der curricularen Fortbildung der Bundesärztekammer "Grundlagen der medizinischen Begutachtung", 2012: Im gesamten Werk fehlen Angaben zur familienrechtlichen Begutachtung.
[6] Müller/Nedopil, Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht, 5. Aufl. 2017, 105: "Gefragt ist der Kinder- und Jugendpsychiater hier vor allem in solchen familiären Konstellationen, in die psychisch auffällige Kinder und möglicherweise gleichzeitig, psychiatrische erkrankte Eltern involviert sind …".
[7] Luhmann, Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984, vgl. S. 30 ff. u. 346 ff.
[8] König/Volmer, Einführung in das systemische Denken und Handeln, 2016, S. 12-14: Systemisches Denken kann definiert werden als Fähigkeit, alle Handelnden und Handlungen im Rahmen eines komplexen Systems zu verstehen, das aus verschiedenen, von einander abhängigen und miteinander verknüpften Variablen besteht.
[9] Kölch/Ziegenhain/Fegert, Kinder psychisch kranker Eltern, Herausforderungen für eine interdisziplinäre Kooperation in Betreuung und Versorgung, 2014, S. 40 ff.; Pretis/Dimova, Frühförderung mit Kindern psychisch kranker Eltern, 3. Aufl. 2016, S. 70 ff.; Lenz/Brockmann, Kinder psyc...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge