Die Anzahl der hochkonflikthaften Verfahren liegt nach Expert:innenschätzungen etwa bei 5-15 %. Das heißt, dass in 85-95 % der Verfahren, die Eltern eine beidseitig einvernehmliche Lösung finden. Häusliche Gewalt betrifft laut zahlreichen Studien in Canada und Großbritannien 50-63 % aller Familien in Sorgerechts- und Besuchsrechtsverfahren.[25] Davon machen 1,3 % der Mütter und 21 % der Väter falsche Angaben vor Gericht.[26]

Dafür werden in der internationalen Fachliteratur verschiedene Gründe wie protektives Gatekeeping oder auf Missverständnissen basierende Irrtümer genannt. Der Vorwurf vor allem an Mütter, zu lügen und über "Programmierung" in böswilliger Absicht das Kind zu manipulieren ist fachlich eine Übertreibung und wird in der wissenschaftlichen Literatur nicht bestätigt. Auch geben die meisten Mütter die Gewaltvorwürfe bereits zu Beginn der Verfahren an, beziehungsweise hat es in der Vergangenheit Anzeigen familiärer Gewaltvorkommnisse gegeben, die im Rahmen der Sorge- und Umgangsrechtsverfahren Beachtung finden sollten, da diese Erlebnisse, auch beobachtete Gewalt, erhebliche Auswirkungen auf die Kinder in von häuslicher Gewalt betroffenen Familien haben.[27]

In der Rechtsprechung nimmt das "PAS" eine Rolle ein, die ihm von Seiten der Wissenschaft nicht zusteht.

[25] Barnett (2020), Domestic Abuse and Private Law Children Cases. Hg.: Ministry of Justice (UK), S. 20, Tab. 4.1.
[26] Bala/Schumann (2000), Allegations of Sexual Abuse When Parents Have Separated; Canadian Family Law Quarterly 17, S. 191-241.
[27] Dlugosch (2010), Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf Kinder – Zum derzeitigen Stand der Forschung, S. 53-80, in: Mittendrin oder nur dabei?, https://doi.org/10.1007.

1. Fallbeschreibung aus Österreich

Ein 6-jähriges Kind von seit der Schwangerschaft der Frau getrenntlebenden Eltern muss alle zwei Wochen mehrere Stunden seinen nicht sorgeberechtigten Vater besuchen, weil dieser das unbegleitete Kontaktrecht hat, obwohl es angibt, Angst vor seinem Vater zu haben. Im ersten Lebensjahr gab es angeblich keinen Kontakt zwischen Vater und Kind. Zunächst ließ die Mutter dann die Besuchskontakte des Vaters zu. Im Alter von 2 und 3 Jahren gab es von der Mutter und einer Ärztin bereits zwei Anzeigen wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch durch den Vater. Es erfolgten mehrfach Gefährdungsmeldungen an das Jugendamt. Trotzdem wurde aufgrund wiederholter Anträge des Vaters eine unbegleitete Besuchsregelung gerichtlich beschlossen. Die Begründung lautete: Die Mutter würde dem Kind Dinge einreden, die Aussagen des Kindes seien "manipuliert", die Aussagefähigkeit des Kindes sei eingeschränkt und sein Wille daher "nicht beachtlich". Die Aussagen des Kindes seien unbegründet. Die Kinder-Jugend-Hilfe (Jugendamt) nahm in dem Fall zwei Jahre lang ihre Zuständigkeit nicht wahr und hatte den Fall "ruhend gestellt", wegen der laufenden Gerichtsverhandlung, da es durch therapeutische Maßnahmen angeblich zu "Beeinflussungen" hätte kommen können. So erhielten die Familie und das Kind über die ganze Zeit hinweg keine therapeutischen Angebote, obwohl eine krankheitswertige Symptomatik vorlag (s.u.).

Die Mutter des Kindes verwehrte erst nach Aufkommen der ersten Verdachtsmomente auf sexuellen Missbrauch einige Kontakte mit ausreichender Begründung, um ihr Kind zu schützen. Trotzdem erhielt sie zwei Beugestrafen[29] in einer Gesamthöhe von einem vierstelligen Eurobetrag und die Androhung, dass sie möglicherweise erziehungsunfähig sei und das Kind dem Vater in Obsorge gegeben werden müsse. Das inzwischen 6-jährige Kind leidet unter kinderpsychiatrischen Erkrankungen mit den Diagnosen (ICD 11) 6C01.1 Enkopresis (Einkoten), 6C001 Enuresis (Einnässen) mit Verschlechterung der Symptomatik in zeitlichem Zusammenhang mit den väterlichen Besuchskontakten. Das Kind berichtet der behandelnden Ärztin von nächtlichen Alpträumen, mit dem Inhalt, dass der Vater in das Haus der Mutter und des Kindes kommen könnte. Weitere Verhaltensauffälligkeiten sind Wutanfälle. Wiederholt hat das Kind bereits vor Behandler:innen und Sachverständigen kundgetan, dass der Vater es nicht abholen solle, weil es Angst vor ihm habe und weil er es mehrfach unsittlich berührt habe. Bei Kontakten verbiete der Vater laut Aussage des Kindes diesem, der Mutter oder anderen Personen von Erlebnissen mit ihm zu erzählen, da der Mutter sonst etwas zustoßen könnte. Das Kind zeigt eine Ambivalenz dem scheinbar durch Induktion abgelehnten Elternteil gegenüber. Es erzählt ohne Beeinflussung von sich aus kurze Erlebnisse mit seinem Vater, die es verängstigt haben. Es zeigt weiterhin in einem Umfeld, in dem es unter Stress steht, freundliches Verhalten dem Vater gegenüber. Es gibt eindeutig beobachtbare Hinweise darauf, dass das Kind im Rahmen der Besuchskontakte unter Stress und hoher Anspannung steht. Trotz alldem seien dem Gericht angeblich keine Probleme bekannt und es wird bei dem hochstrittigen Elternpaar gerichtlich auf ein gemeinsames Sorgerecht hingearbeitet.

Wenn der Verdacht nicht geklärt werden, ...

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