Einführung

Nachdem der BGH in einem Beschl. v. 16.9.2020[1] eine Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle ausdrücklich nicht ausgeschlossen und damit praktisch postuliert hat, werden in der Literatur verschiedene Modelle für eine solche erweiterte Tabelle diskutiert. In seinem Vortrag vom 25.11.2021 bei der diesjährigen Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im DAV hat der Verfasser einige dieser Vorschläge erörtert und sich im Ergebnis für den Entwurf der Unterhaltskommission des DFGT e.V.[2] ausgesprochen.

Im Folgenden werden die Kernthesen und -argumente des Vortrags zusammengefasst, wobei sich die Darstellung auf die Struktur der eigentlichen (Bedarfs-) Tabelle beschränkt.

[2] FamRZ 2021, 923 = Niepmann/Denkhaus/Schürmann, FamRB 2021, 348.

I. Einleitung

Die Düsseldorfer Tabelle ist seit fast 60 Jahren in Gebrauch und hat sich im Laufe der Zeit deutlich verändert.[3] Sie genießt in der familienrechtlichen Praxis eine hohe Akzeptanz und trägt in besonderem Maße zur Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen und zur Gleichbehandlung von Unterhaltsschuldnern und -gläubigern in Deutschland bei. Zu Recht kritisiert wird allerdings, dass die von der Praxis als reine Auslegungshilfe entwickelte Düsseldorfer Tabelle von vielen Gerichten gleichsam wie ein Gesetz angewendet wird, so dass vom Normalfall abweichende Umstände des Einzelfalls in gerichtlichen Entscheidungen (zu) wenig Beachtung finden.[4] Eine derart starre Handhabung der Tabellenbeträge wird der Aufgabe des Gerichts, den im Einzelfall angemessenen Unterhalt zu bestimmen, nicht gerecht und läuft damit auf eine rechtswidrige Ermessensunterschreitung hinaus. Allerdings ist auch zu beobachten, dass die anwaltliche Praxis – in vorauseilendem Gehorsam? – oft eher zurückhaltend zu solchen besonderen Umständen des Einzelfalls vorträgt. Dieses Problem betrifft zum einen Unterhaltsberechtige, deren individueller Bedarf die pauschalen Sätze der Tabelle übersteigt.[5] Es gilt aber umgekehrt auch für Unterhaltsschuldner, die in Bezug auf den Kindesunterhalt jedenfalls bisher kaum mit Erfolg geltend machen können, während des Zusammenlebens als intakte Familie zu keiner Zeit den Lebensstandard gepflegt zu haben, zu dessen Deckung sie nach der Trennung verpflichtet werden sollen, oder bei der Prüfung einen höheren als den pauschalen tabellarischen Selbstbehalt durchsetzen wollen.[6] Da die Pflicht zur Unterhaltszahlung den Schuldner in seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit beschränkt, bedarf sie jedoch schon aus verfassungsrechtlichen Gründen[7] in Grund und Höhe einer überzeugenden Rechtfertigung. Zugleich muss die Praxis im Blick behalten, dass über die angemessenen Lebensstellung (§ 1610 Abs. 1 BGB) eines minderjährigen Kindes und damit seinen unterhaltsrechtlichen Bedarf[8] in erster Linie seine sorgeberechtigten Eltern entscheiden, denn ihnen weist Art. 6 GG die Erziehung primär zu, wenn auch begrenzt durch das staatliche Wächteramt.

[3] Lesenswert zur Geschichte der Düsseldorfer Tabelle Otto, FamRZ 2012, 837; zu ihrer Entwicklung und Struktur s. Schürmann, FamRZ 2019, 493.
[4] Vgl. etwa 23. Deutscher Familiengerichtstag – Empfehlungen des Vorstands, Nr. A.I.1.a), Brühler Schriften zum Familienrecht, Bd. 21, S. 151.
[5] Zum Sonderproblem der in der Tabelle berücksichtigten Wohnkosten s. FamRZ 2021, 923 = Niepmann/Denkhaus/Schürmann, FamRB 2021, 348 unter IV. 1. d).
[6] Ausführlich zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer individuellen Betrachtung der Leistungsfähigkeit Lipp, FamRZ 2012, 1.
[7] Zur verfassungsrechtlichen Relevanz von Unterhaltspflichten zuletzt BVerfG FamRZ 2021, 274.
[8] Der unterhaltsrechtliche Bedarf ist mit Schürmann, FamRZ 2019, 493, als die Summe an Geld- und Sachmitteln zu definieren, die erforderlich ist, um den Lebensunterhalt einer bestimmten Person zu gewährleisten.

II. Die angemessene Lebensstellung des minderjährigen Kindes

In der Rechtsprechung des BGH hat dies Ausdruck in der Formulierung gefunden, das Kind leite seine durch das Kindsein geprägte Lebensstellung von derjenigen seiner Eltern ab. Es nehme daher begrenzt an ihrem Wohlstand teil, insbesondere habe es keinen Anspruch auf "Teilhabe am Luxus".[9] Dem ist mit der Maßgabe zuzustimmen, dass "Luxus" ein wenig greifbarer und erst recht kaum sinnvoll in Relation zum sozialrechtlichen Existenzminimum definierbarer Begriff ist,[10] das die Bezugsgröße der Bedarfssätze der Düsseldorfer Tabelle bildet. Eine Fortschreibung der Tabellensätze über die 10. Einkommensgruppe hinaus lehnte der BGH in seiner früheren Rechtsprechung ab.[11] Er begründete dies zum einen mit dem überzeugenden Argument, für solche gehobenen wirtschaftlichen Verhältnisse fehle es an ausreichenden Erfahrungssätzen über die Teilhabe, die Eltern mit entsprechendem Einkommen ihren minderjährigen Kindern üblicherweise zukommen lassen. Darüber hinaus steige mit einem wachsenden pauschalen Bedarf die Gefahr, dass der betreuende Elternteil den für das Kind bestimmten Barunterhalt zweckentfremde, also für eigene Zwecke verwende.

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