Entscheidungsstichwort (Thema)

Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen ist. Vollstreckung einer in Abwesenheit verhängten Strafe. Möglichkeit einer Überprüfung des Urteils

 

Beteiligte

Melloni

Stefano Melloni

Ministerio Fiscal

 

Tenor

1. Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er die vollstreckende Justizbehörde unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen daran hindert, die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls von der Bedingung abhängig zu machen, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden kann.

2. Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist mit den sich aus den Art. 47 und 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergebenden Erfordernissen vereinbar.

3. Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, abhängig zu machen, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in seiner Verfassung garantiert sind, verletzt werden.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Constitucional (Spanien) mit Entscheidung vom 9. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juli 2011, in dem Verfahren

Stefano Melloni

gegen

Ministerio Fiscal

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Rosas und E. Jarašiūnas sowie der Richter E. Levits, A. Ó Caoimh, J.-C. Bonichot, M. Safjan (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juli 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Melloni, vertreten durch L. Casaubón Carles, abogado,
  • des Ministerio Fiscal, vertreten durch J. M. Caballero Sánchez-Izquierdo,
  • der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,
  • der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Kemper und T. Henze als Bevollmächtigte,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer und C. Wissels als Bevollmächtigte,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
  • der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,
  • der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte,
  • des Rates der Europäischen Union, vertreten durch P. Plaza García und T. Blanchet als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral, H. Krämer und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Oktober 2012

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung und gegebenenfalls die Gültigkeit von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584). Außerdem wird der Gerichtshof darum ersucht, gegebenenfalls zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen Verletzung der in der nationalen Verfassung garantierten Grundrechte des Betroffenen verweigern kann.

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Melloni und dem Ministerio Fiscal über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der von den italienischen Behörden zur Vollstreckung der in Abwesenheit gegen ihn ergangenen Verurteilung zu einer Haftstr...

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