Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. Zeitlicher Geltungsbereich. Vor dem 16. März 2013 ständig geübte Praxis, weder Verzugszinsen noch eine Entschädigung für Beitreibungskosten zu verlangen. Praxis bei Einzelbestellungen nach diesem Zeitpunkt. Grob nachteilige Vertragsklauseln und Praktiken. Freiwilliger Verzicht

 

Normenkette

Richtlinie 2011/7/EU Art. 12 Abs. 4, Art. 7 Abs. 2-3

 

Beteiligte

A

A Oy

B Ky

Erbengemeinschaft nach C

 

Tenor

1. Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr

ist dahin auszulegen, dass

die Mitgliedstaaten vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie eine die Zahlung von Verzugszinsen und einer Entschädigung für Beitreibungskosten betreffende Vertragspraxis ausnehmen können, wenn diese Praxis unter einen Vertrag fällt, der gemäß dem anwendbaren nationalen Recht vor dem 16. März 2013 geschlossen wurde. Nach diesem Zeitpunkt erfolgte Einzelbestellungen, aufgrund deren Verzugszinsen und solche Entschädigungen geltend gemacht werden, können vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/7 ausgenommen werden, sofern es sich bei ihnen gemäß dem anwendbaren nationalen Recht bloß um die Erfüllung eines vor dem 16. März 2013 geschlossenen Vertrags handelt. Dagegen können diese Einzelbestellungen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie nicht ausgenommen werden, wenn sie gemäß diesem nationalen Recht eigenständige Verträge darstellen, die nach diesem Zeitpunkt geschlossen wurden.

2. Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/7

ist dahin auszulegen, dass

er einer Praxis nicht entgegensteht, nach der der Gläubiger bei weniger als einen Monat betragendem Zahlungsverzug im Gegenzug für die Zahlung der fälligen Hauptschuld weder Verzugszinsen noch eine Entschädigung für Beitreibungskosten verlangt, sofern der Gläubiger durch dieses Verhalten freiwillig zugestimmt hat, auf die Zahlung dieser Zinsen und dieser Entschädigung zu verzichten.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland) mit Entscheidung vom 1. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren

A Oy

gegen

B Ky,

Erbengemeinschaft nach C

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter I. Jarukaitis und Z. Csehi (Berichterstatter),

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der A Oy, vertreten durch K. Tenhovirta, Asianajaja,
  • der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, T. Simonen und I. Söderlund als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 und 3 sowie von Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2011, L 48, S. 1).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der A Oy einerseits und der B Ky und der Erbengemeinschaft nach C andererseits über die verspätete Begleichung von 135 Rechnungen, die im Zeitraum vom 10. April 2015 bis 21. Februar 2018 fällig geworden sind.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2011/7

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 12, 16 und 28 der Richtlinie 2011/7 heißt es:

„(12) Zahlungsverzug stellt einen Vertragsbruch dar, der für die Schuldner in den meisten Mitgliedstaaten durch niedrige oder nicht vorhandene Verzugszinsen und/oder langsame Beitreibungsverfahren finanzielle Vorteile bringt. Ein durchgreifender Wandel hin zu einer Kultur der unverzüglichen Zahlung, in der auch der Ausschluss des Rechts zur Verzinsung von verspäteten Zahlungen immer als grob nachteilige Vertragsklausel oder Praxis betrachtet wird, ist erforderlich, um diese Entwicklung umzukehren und von der Überschreitung der Zahlungsfristen abzuschrecken. Dieser Wandel sollte auch die Einführung besonderer Bestimmungen zu Zahlungsfristen und zur Entschädigung der Gläubiger für die ihnen entstandenen Kosten einschließen, sowie auch Bestimmungen, wonach vermutet wird, dass der Ausschluss des Rechts auf Entschädigung für Beitreibungskosten grob nachteilig ist.

(16) Durch diese Richtlinie sollte kein Gläubiger verpflichtet werden, Verzugszinsen zu fordern. Diese Richtlinie sollte es einem Gläubiger ermöglichen, bei Zahlungsverzug ohne eine vorherige Mahnung oder eine andere vergleichbare Mitteilung, die den Schuldner an seine Zahlungsverpflichtung erinnert, Verzugszinsen zu verlangen.

(28) Der Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers sollte nach dieser Richtlinie verboten sein. Wenn sich demzufolge eine V...

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