Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann. Der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe im Ausstellungsstaat zugrunde liegende Straftat, die im Vollstreckungsstaat nur mit Geldstrafe bewehrt ist

 

Normenkette

Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 4 Nr. 6

 

Beteiligte

Sut

Marin-Simion Sut

 

Tenor

Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde – wenn wie im Ausgangsverfahren die Person, gegen die zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, ihren Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat hat und zu diesem familiäre, soziale und berufliche Bindungen aufweist – die Vollstreckung des Haftbefehls aus Gründen der Resozialisierung der Person verweigern kann, obwohl die dem Haftbefehl zugrunde liegende Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nur mit Geldstrafe bewehrt ist, sofern dieser Umstand es nach dem nationalen Recht nicht ausschließt, dass die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe in diesem Mitgliedstaat tatsächlich vollstreckt wird, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Liège (Appellationshof Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 3. August 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 23. August 2017, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

Marin-Simion Sut

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juni 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Sut, vertreten durch R. Destexhe, avocate,
  • der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul, C. Pochet und J.-C. Halleux als Bevollmächtigte im Beistand der Sachverständigen J. Maggio,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
  • der spanischen Regierung, vertreten durch M. J. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
  • der rumänischen Regierung, vertreten durch C.-R. Canţăr, E. Gane, R.-M. Mangu und L. Liţu als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. September 2018

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Belgien, der am 26. August 2011 von den rumänischen Behörden gegen Herrn Marin-SimionSut erlassen wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rahmenbeschluss 2002/584

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 5, 6 und 10 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6) Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die ...

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