Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens. Nationale Rechtsvorschrift, die vorsieht, dass sich das nationale Gericht wegen Befangenheit ablehnt, weil es im Vorabentscheidungsersuchen durch Feststellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens einen vorläufigen Standpunkt geäußert hat

 

Normenkette

AEUV Art. 267; Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 94; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 48 Abs. 1, Art. 47 Abs. 2

 

Beteiligte

Ognyanov

Atanas Ognyanov

Sofyiska gradska prokuratura

 

Tenor

1. Die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sind im Licht von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die so ausgelegt wird, dass sie das vorlegende Gericht verpflichtet, sich in der anhängigen Rechtssache wegen Befangenheit abzulehnen, weil es in seinem Vorabentscheidungsersuchen den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Rechtssache dargelegt hat.

2. Das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, ist dahin auszulegen, dass es vom vorlegenden Gericht weder verlangt noch ihm untersagt, nach Verkündung des Urteils im Vorabentscheidungsverfahren eine nochmalige Anhörung der Beteiligten sowie eine erneute Beweisaufnahme vorzunehmen, die es dazu veranlassen können, die im Rahmen seines Vorabentscheidungsersuchens getroffenen tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen zu ändern, sofern es der Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union volle Wirksamkeit verschafft.

3. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es ein vorlegendes Gericht hindert, eine nationale Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die als mit dem Unionsrecht unvereinbar angesehen wird, anzuwenden.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Beschluss vom 15. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Dezember 2014, in dem Strafverfahren gegen

Atanas Ognyanov

Beteiligte:

Sofyiska gradska prokuratura

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, J. L. da Cruz Vilaça, A. Arabadjiev, C. Toader und F. Biltgen, der Richter J.-C. Bonichot und M. Safjan, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda und S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, C. Schillemans und M. Gijzen als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger, R. Troosters und V. Soloveytchik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. Februar 2016

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sowie von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die Anerkennung eines strafrechtlichen Urteils und die Vollstreckung einer von einem dänischen Gericht gegen Herrn Atanas Ognyanov verhängten Freiheitsstrafe in Bulgarien.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 94 „Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens”) der Verfahrensordnung sieht vor:

„Das Vorabentscheidungsersuchen muss außer den dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen enthalten:

  1. eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen;
  2. den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung;
  3. eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt.”

Bulgarisches Recht

Rz. 4

Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass ein Richter u. a. dann, wenn er als parteiisch anzusehen ist, gemäß Art. 29 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) nicht dem Spruchkörper angehören darf. Nach der Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof, Bulgarien) stellt es einen besonderen Fall der Parteilichkeit dar, wenn ein Richter einen vorläufigen Standpunkt in der Sache selbst abgibt, bevor er eine endgültige Entscheidun...

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