Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Freizügigkeit und freier Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten. Besondere Strafbarkeit der internationalen Entführung Minderjähriger. Beschränkung. Kindesschutz. Verhältnismäßigkeit

 

Normenkette

Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; AEUV Art. 21

 

Beteiligte

Staatsanwaltschaft Köln

RV

 

Tenor

Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem aufenthaltsbestimmungsberechtigten Pfleger entzieht, um es in das Ausland zu verbringen, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Entziehen, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Köln (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 30. November 2021, in dem Strafverfahren gegen

RV,

Beteiligte:

Staatsanwaltschaft Köln,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters N. Piçarra,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 AEUV.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen RV wegen Entziehung Minderjähriger.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 2 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) heißt es:

„(2) Auf seiner Tagung in Tampere hat der Europäische Rat den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, der für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbar ist, anerkannt und die Besuchsrechte als Priorität eingestuft.

(21) Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.”

Deutsches Recht

Rz. 4

§ 235 („Entziehung Minderjähriger”) Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuchs (StGB) bestimmt:

„(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

  1. eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List oder
  2. ein Kind, ohne dessen Angehöriger zu sein,

den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger entzieht oder vorenthält.

(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger

  1. entzieht, um es in das Ausland zu verbringen, oder
  2. im Ausland vorenthält, nachdem es dorthin verbracht worden ist oder es sich dorthin begeben hat.”

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

Rz. 5

RV, eine rumänische Staatsangehörige und Mutter von zwei in Rumänien geborenen minderjährigen Kindern, lebt mit ihren Kindern seit unbestimmter Zeit in Deutschland.

Rz. 6

Mit Beschluss vom 28. September 2018 entzog das Amtsgericht Köln (Deutschland) RV u. a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Kinder und übertrug dieses Recht im Rahmen einer Ergänzungspflegschaft auf eine Pflegerin.

Rz. 7

Im Zeitraum zwischen dem 7. und dem 15. Oktober 2020 verbrachte RV die Kinder nach Rumänien, ohne dass die Ergänzungspflegerin hierüber informiert worden war. Während RV und eines der Kinder am 11. April 2021 nach Deutschland zurückkehrten, blieb das andere Kind in Rumänien.

Rz. 8

Auf eine Strafanzeige der Ergänzungspflegerin gegen RV wurde vor dem Amtsgericht Köln ein Strafverfahren wegen Entziehung Minderjähriger eingeleitet. Dieses verurteilte RV mit Urteil vom 19. April 2021 wegen Entziehung Minderjähriger gemäß § 235 Abs. 2 Nr. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Rz. 9

RV legte gegen dieses Urteil beim Landgericht Köln (Deutschland), dem vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache, Berufung ein.

Rz. 10

Dieses Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit von § 235 Abs. 2 Nr. 1 StGB mit Art. 21 AEUV, die auf dem Urteil vom 19. November 2020, ZW (C-454/19, EU:C:2020:947), beruhen, dessen Begründung ihm auf die vorliegende Rechtssache übertragbar erscheint.

Rz. 11

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass sich der Gerichtshof mit diesem Urt...

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