Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Einwanderungspolitik. Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Gegen einen Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung. Minderjähriger Drittstaatsangehöriger, der im Fall einer Rückkehr von seinen Eltern getrennt würde. Kindeswohl. Recht auf Achtung des Familienlebens

 

Normenkette

Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Richtlinie 2008/115/EG Art. 5 Buchst. a, b

 

Beteiligte

Bundesrepublik Deutschland

Bundesrepublik Deutschland

GS

 

Tenor

Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger

ist dahin auszulegen, dass

er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juli 2022, in dem Verfahren

Bundesrepublik Deutschland

gegen

GS, vertreten durch seine Eltern,

Beteiligte:

Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesrepublik Deutschland und GS, einem durch seine Eltern vertretenen minderjährigen Kind, u. a. wegen der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: Bundesamt) gegen dieses Kind erlassenen Abschiebungsandrohung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt in Art. 7 („Achtung des Privat- und Familienlebens”):

„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.”

Rz. 4

In Art. 24 („Rechte des Kindes”) der Charta heißt es:

„…

(2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

(3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.”

Richtlinie 2008/115

Rz. 5

Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 findet diese „Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige”.

Rz. 6

Nach Art. 3 („Begriffsbestimmungen”) dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

„1. ‚Drittstaatsangehörige’: alle Personen, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel [9 EUV] sind und die nicht das Gemeinschaftsrecht auf freien Personenverkehr nach Artikel 2 Absatz 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] genießen;

2. ‚illegaler Aufenthalt’: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3. ‚Rückkehr’: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

  • deren Herkunftsland oder
  • ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder
  • ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4. ‚Rückkehrentscheidung’: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5. ‚Abschiebung’: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d...

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