Gemäß § 1572 BGB kann ein geschiedener Ehegatte von dem anderen Ehegatten Unterhalt verlangen, soweit und solange von ihm im Zeitpunkt

  1. der Scheidung,
  2. der Beendigung der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes,
  3. der Beendigung der Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung oder
  4. des Wegfalls der Voraussetzungen für einen Unterhaltsanspruch nach § 1573 BGB

an wegen Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte eine Erwerbstätigkeit nicht verlangt werden kann.

 
Achtung

Wenn der Unterhaltsberechtigte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bezieht, entfällt nicht zwingend jegliche Erwerbsobliegenheit. Der BGH[191] nimmt auch dann eine verbleibende Erwerbsobliegenheit an, wenn eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gem. § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI bezogen wird. Eine vollständige Unfähigkeit für sämtliche Tätigkeiten, etwa im Geringverdienerbereich, ergibt sich daraus noch nicht, weil die Voraussetzungen für den Rentenbezug bereits dann erfüllt sind, wenn es nicht möglich ist, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dementsprechend trägt der Unterhaltsberechtigte trotz des Bezugs der Rente wegen Erwerbsminderung die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er keine geringfügige Beschäftigung (sog. Mini-Job) zu erlangen vermag.[192]

5.2.3.1 Begriff der Krankheit

Der Krankheitsbegriff im § 1572 BGB entspricht demjenigen im Sozialversicherungsrecht. Auch Alkoholsucht[193], Drogensucht und Medikamentenabhängigkeit sind grundsätzlich als Krankheit anzusehen. Darüber hinaus kann es sich beispielsweise bei erheblichem Übergewicht[194], Magersucht oder Depressionen[195] um eine Erkrankung im Sinne der Vorschrift handeln. Bei Beschwerden auf psychischem Gebiet, die oftmals mit einer Ehescheidung einhergehen und in der Regel durch adäquate Behandlung überwunden werden können, ist fraglich, ob ein Anspruch nach § 1572 BGB begründet werden kann.[196]

 
Hinweis

Die Krankheit muss nicht ehebedingt sein.

[194] OLG Köln, FamRZ 1992, 65.
[196] OLG Hamm, FamRZ 1995, 996.

5.2.3.2 Obliegenheit zur Behandlung

Der kranke Ehegatte hat eine unterhaltsrechtliche Obliegenheit, die Krankheit behandeln zu lassen, sofern dies relativ gefahrlos möglich und aussichtsreich ist. Dies gilt grundsätzlich auch bei Suchterkrankungen. Zur Wiederherstellung der vollständigen Erwerbstätigkeit trifft einen unter Depressionen leidenden Unterhaltsberechtigten die Obliegenheit, alle ihm zumutbaren Mitwirkungshandlungen zu unternehmen, um seine Krankheit behandeln zu lassen. Hierfür ist erforderlich, dass der Unterhaltsberechtigte persönlich in einer Praxis vorspricht oder ggf. in der Praxis wartet bis ein Ansprechpartner vor Ort ist. Darüber hinaus muss sich der Betroffene auch an seinen Hausarzt oder die Krankenkasse wenden. Unterlässt er dies in vorwerfbarer Weise, ist ihm ein fiktives Einkommen aus vollschichtiger Tätigkeit zuzurechnen.[197]

In einigen Ausnahmefällen gehört die fehlende Einsicht in die Krankheit zum Krankheitsbild, in diesen Fällen kann eine Behandlung im Regelfall nicht verlangt werden.

Die Verletzung der Behandlungsobliegenheit kann Verwirkungsfolgen gemäß § 1579 Nr. 4 BGB nach sich ziehen, wenn das Verhalten des Berechtigten sich als mutwillig darstellt.

Ist der berechtigte Ehegatte aufgrund der Erkrankung ganz oder teilweise erwerbsunfähig, kann ihm zugemutet werden, einen Rentenantrag zu stellen, sofern die formellen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung vorliegen.

5.2.3.3 Einsatzzeitpunkt

Liegt eine Krankheit bereits im Scheidungszeitpunkt vor, besteht ein originärer Unterhaltsanspruch nach § 1572 BGB. Folgt die Krankheit hingegen auf eine Anspruchsberechtigung nach den §§ 1570, 1575, 1573 BGB, handelt es sich um einen Fall des sogenannten Anschlussunterhalts. In derartigen Fällen ist zu beachten, dass ein Anschlussunterhalt lediglich im Umfang des weggefallenen Vorgängeranspruchs verlangt werden kann.[198]

Für die Entstehung eines Unterhaltsanspruchs nach § 1572 BGB wird es als ausreichend erachtet, wenn eine Krankheit zu einem der Einsatzzeitpunkte nur latent vorhanden war und in einem nahen zeitlichen Zusammenhang damit ausgebrochen ist und zur Erwerbsunfähigkeit geführt hat. Der erforderliche zeitliche Zusammenhang nach § 1572 Nr. 1 BGB fehlt, wenn die Krankheit erst 23 Monate nach der Scheidung erstmals die Erwerbsfähigkeit gemindert hat.[199] Scheitert ein Unterhaltsanspruch wegen Krankheit ausschließlich an dem Einsatzzeitpunkt, kann die Prüfung geboten sein, ob dem Berechtigten ein Unterhaltsanspruch nach § 1576 BGB zusteht.[200]

[200] BGH, FamRZ 2003, 1743.

5.2.3.4 Darlegungs- und Beweislast

Der Berechtigte ist zunächst dafür darlegungs- und beweisbelastet, dass er krankheitsbedingt nicht oder nur eingeschränkt erwerbsfähig ist[201], wobei aber die Anforderungen, die insoweit zu stellen sind, nicht überspannt werden dürfen, sondern den Umständen des...

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