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§ 11 ErbStG erklärt für die Wertermittlung[1] grundsätzlich den Zeitpunkt (Bewertungsstichtag) als maßgebend, an dem die Steuer entsteht; die Entstehung ist wiederum in § 9 ErbStG geregelt,[2] Näheres dazu siehe Kommentierung des § 9 ErbStG. Die Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie die Bewertung sind somit stichtagsabhängig. Der Stichtag wird auch Besteuerungszeitpunkt genannt. Durch aufschiebende Bedingungen, Befristungen und Betagungen kann der Besteuerungszeitpunkt zeitlich verschoben sein/werden.[3] Die Wertermittlung nach § 11 ErbStG stellt eine Momentaufnahme der Verhältnisse am Besteuerungszeitpunkt dar und ist nicht das Ergebnis einer dynamischen Betrachtung, mit der sich auch die weitere wertmäßige Entwicklung des Erwerbs nach dem Zeitpunkt der Steuerentstehung erfassen ließe.[4] Zur Wertermittlung gehört auch die Zurechnung der betreffenden Vermögensgegenstände.[5]

Bei der gebotenen Stichtagsbetrachtung sind, soweit im Gesetz nichts anderes bestimmt ist, zukünftige, nach dem Stichtag liegende Ereignisse bei der Feststellung des Ist-Zustands zum maßgeblichen Stichtag nicht zu berücksichtigen. Das Stichtagsprinzip schließt dennoch nicht grundsätzlich jeden Blick auf vorhergehende oder nachfolgende Ereignisse aus, insbesondere können später eingetretene Umstände zur Beurteilung der am Stichtag gegebenen Verhältnisse unterstützend im Sinne einer retrospektiven Betrachtung herangezogen werden; eine Rückprojizierung nachträglich eingetretener Ereignisse ist dagegen nicht erlaubt.[6] Dabei war dem Gesetzgeber durchaus bekannt, dass sich die Wertverhältnisse im Anschluss an den Bewertungsstichtag mehr oder weniger gravierend verändern können, und zwar nach beiden Richtungen im Sinne eines Wertverlustes oder Wertzuwachses. Beides sollte bewusst außer Betracht bleiben. Im Einzelfall nachträglich eintretende Umstände können prinzipiell eine abweichende Steuerfestsetzung aus sachlichen Billigkeitsgründen nach § 163 S. 1 AO rechtfertigen können,[7] siehe Rdn 7 f. Es gibt außerdem spezielle Vorschriften, die eine Berücksichtigung nachträglich eintretender Umstände auch im Erbschaftsteuerrecht zulassen, siehe insbesondere § 29 ErbStG, §§ 58 BewG.[8]

[1] Der Begriff der Wertermittlung umfasst das ganze Programm der Rechenschritte, die nach § 10 Abs. 1 ErbStG zur Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage führen. Zur Wertermittlung gehört also auch die Feststellung, welche Nachlassverbindlichkeiten gem. § 10 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Abs. 39 ErbStG abziehbar sind (BFH v. 28.10.2015 – II R 46/13, BStBl II 2016, 477 m.w.N.).
[2] Daragan, ZErb 2004, 8.
[3] Vgl. z.B. BFH v. 9.2021 – II R 8/19, BFH/NV 2022, 236 m. Anm. Halaczinsky, jurisPR-SteuerR 11/2022 Anm 3. Ist ein Anteil an einer Personengesellschaft Gegenstand einer aufschiebend bedingten Schenkung, ist die Zuwendung erst mit Bedingungseintritt ausgeführt. Die gesonderte Wertfeststellung des Anteils muss auf den Stichtag des Vollzugs der Schenkung erfolgen.
[4] Nachträglich eingetretene Umstände können deshalb grundsätzlich nicht bei der Festsetzung der Steuer berücksichtigt werden, vgl. BFH v. 2.3.2006 – II R 57/04, BFH/NV 2006, 1480.
[5] So z.B. FG Baden-Württemberg v. 12.2.2020 – 7 K 3343/18, EFG 2020, 1146. Für die Frage der Zurechnung des erworbenen Vermögens ist es grds. unbeachtlich, wenn aufgrund der möglichen Verfügung des Verfügungsberechtigten (Testamentsvollstrecker, Depotverwalter etc.) über die Nachlassgegenstände bzw. von Todes wegen erworbenen Vermögenswerte im Zeitpunkt des Erbfalls nicht bestimmbar ist, welche Vermögensgegenstände die Erben oder die übrigen Erwerber letztlich aus dem Nachlass erhalten werden, vgl. FG Köln v. 30.1.2019 – 7 K 1364/17, EFG 2019, 1122.
[8] Vgl. z.B. FG Schleswig-Holstein v. 14.10.2016 – 3 K 112/13, juris, bei nachträglichem Eintreten der wirtschaftlichen Belastung einer Steuerschuld des Erblassers.

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