Rz. 40

Neben dem Erfordernis der rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr ohne Bewährung erfordert die Pflichtteilsentziehung aber auch eine Unzumutbarkeit der Nachlassteilhabe des Pflichtteilsberechtigten aus der Sicht des Erblassers. Auf diese Weise wird abgesichert, dass der Schutz der Familie, der einen tragenden Grund auch für den verfassungsrechtlichen Schutz des Pflichtteilsrechts darstellt,[130] nicht einer automatisch eintretenden Pflichtteilsentziehungsmöglichkeit zum Opfer fällt.[131]

 

Rz. 41

Auch wenn das Tatbestandsmerkmal der Unzumutbarkeit konturlos geraten ist und daher das erhebliche Risiko einer breit gefächerten Einzelfallrechtsprechung mit sich bringt,[132] soll die Beurteilung daran orientiert werden, in welchem Maß die in Rede stehende Straftat den persönlichen, in der Familie gelebten Wertvorstellungen des Erblassers widerspricht. Vor diesem Hintergrund kommt eine Pflichtteilsentziehung – mangels Unzumutbarkeit für den Erblasser – unter Umständen nicht in Betracht, wenn sich der Erblasser selbst strafbar gemacht hat.[133] Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Erblasser sich an der in Rede stehenden Straftat des Pflichtteilsberechtigten beteiligt hat. Bei anderen, insbesondere auch länger zurückliegenden Straftaten des Erblassers ist aber eine differenziertere Betrachtung angezeigt. Hier ist auf die konkret in der Familie gelebten Werte abzustellen.[134] Hat der Erblasser beispielsweise Jahrzehnte vor der Straftat des Pflichtteilsberechtigten ein ähnliches oder vergleichbar schweres Delikt begangen, sich hiervon aber später eindeutig distanziert, kann dies der Unzumutbarkeit der Nachlassteilhabe für den Erblasser nicht nur nicht entgegenstehen,[135] sondern diese sogar unterstreichen.

 

Rz. 42

Von diesen Sonderfällen abgesehen, soll nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine Art Wechselwirkung zwischen der Schwere der Tat und der Unzumutbarkeit der Nachlassteilhabe bestehen.[136] Je schwerer die Tat bzw. ihre Bestrafung, desto mehr ist vom Vorliegen einer Unzumutbarkeit für den Erblasser auszugehen. Nichtsdestotrotz kann die Unzumutbarkeit nicht allein an allgemeinen gesellschaftlich anerkannten Moralvorstellungen orientiert werden, vorrangig ist stets auf die konkrete Familie und die von bzw. in ihr gelebten Werte abzustellen.[137]

[130] Meyer, FPR 2008, 537, 539; Lange, DNotZ 2009, 732, 740; Burandt/Rojahn/Horn, Erbrecht, § 2333 Rn 38.
[131] Vgl. MüKo/Lange, § 2333 Rn 42.
[132] Vgl. BRAK-Stellungnahme Nr. 35/2007, S. 21; siehe auch MüKo/Lange, § 2333 Rn 43; Staudinger/Olshausen [2015], § 2333 Rn 30; Hölscher/Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, HB Pflichtteilsrecht, § 8 Rn 58; NK-BGB/Herzog, § 2333 Rn 28.
[133] BT-Drucks 16/8954, S. 24.
[134] MüKo/Lange, § 2333 Rn 44.
[135] MüKo/Lange, § 2333 Rn 44.
[136] Hölscher/Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, HB Pflichtteilsrecht, § 8 Rn 85; MüKo/Lange, § 2333 Rn 51.
[137] MüKo/Lange, § 2333 Rn 44.

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