Rz. 1

§ 2072 BGB stellt eine Auslegungsregel dar. Der Erblasser möchte in einer letztwilligen Verfügung, in welcher er die Armen schlechthin bedenkt, i.d.R. nicht alle Armen einzeln bedenken. Vielmehr entspricht es seinem Willen, dass das durch letztwillige Verfügung Zugewandte möglichst effektiv zur Unterstützung der Armen eingesetzt wird. Die Auslegungsregel des § 2072 BGB präzisiert den Willen des Erblassers dahingehend, dass für den Fall, dass die Armen bedacht sind, die öffentliche Armenkasse der Gemeinde unter einer Auflage als bedacht anzusehen ist.[1] Nach a.A. stellt § 2072 BGB eine Umdeutungsregel dar.[2] Dieser Ansicht kann jedoch aufgrund des Wortlauts des § 2072 BGB nicht gefolgt werden. Hier heißt es "im Zweifel". Dieser Begriff ist mit der Einordnung der Vorschrift als Umdeutungsregel nicht zu vereinbaren, sondern deutet auf die Auslegungsfähigkeit des Begriffs "die Armen" hin.

Die konkrete Auslegung hat stets Vorrang vor der Auslegungsregel des § 2072 BGB. Eines Rückgriffs auf die Vorschrift des § 2072 BGB bedarf es dann bspw. nicht, wenn sich im Wege der Auslegung ermitteln lässt, dass der Erblasser eine vermächtnisweise Zuwendung an zehn bedürftige Kinder aus einem örtlichen Waisenhaus wollte.[3]

[1] KG OLGZ 1993, 6, 7; MüKo/Leipold, § 2072 Rn 1.
[2] OLG Hamm OLGZ 1984, 323, 324; Soergel/Loritz, § 2072 Rn 1; v. Lübtow, Erbrecht I, S. 290; BeckOK BGB/Litzenburger, § 2072 Rn 1; BeckOGK/Gomille, § 2072 BGB Rn 2.

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