Entscheidungsstichwort (Thema)

Referenzmengenübergang. Betriebsübertragung vor dem 1. April 1984. gleichheitswidriger Begünstigungsausschluß. Prärogative des Verordnungsgebers. Aussetzung des Verfahrens. Ermessen des Normgebers. Ermessensreduktion

 

Leitsatz (amtlich)

Schließt eine Rechtsverordnung eine Personengruppe in einer das Gleichheitsgebot verletzenden Weise von einer Vergünstigung aus, so ist es den Verwaltungsgerichten im allgemeinen wegen der Prärogative des Verordnungsgebers verwehrt, Ansprüche der zu Unrecht Übergangenen für begründet zu erklären. Das gilt nicht, wenn die ausstehende generell-abstrakte Regelung nur dann verfassungsgerecht wäre, wenn sie solche Ansprüche vorsähe.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1; MGV a.F. § 7 Abs. 1

 

Verfahrensgang

OVG für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein (Urteil vom 14.05.1992; Aktenzeichen 3 OVG A 104/88)

VG Oldenburg (Gerichtsbescheid vom 12.02.1988; Aktenzeichen 2 VG A 43/86)

 

Tenor

Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Mai 1992 wird aufgehoben, soweit es dem nachfolgenden Verpflichtungsausspruch entgegensteht. Ferner werden im gleichen Umfang der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 12. Februar 1988 und die Bescheide der Beklagten vom 27. Mai und 15. Juli 1988 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger zu bescheinigen, daß auf ihn die einer Anlieferungs-Milchmenge von 55.621 kg entsprechende Referenzmenge zum 1. April 1992 von dem Pächter R. über die Pächter C. und de B. übergegangen ist.

Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Beklagte vollständig. Die Kosten der Vorinstanzen fallen zu drei Vierteln dem Kläger, im übrigen der Beklagten zur Last.

 

Tatbestand

I.

Der Kläger ist Eigentümer eines ca. 70 ha großen landwirtschaftlichen Betriebes. Der Betrieb war zunächst an den Landwirt R. verpachtet. Nach Kündigung des Pachtverhältnisses durch den Kläger zum 30. April 1981 wurde dem Pächter gerichtlicher Pächterschutz bis zum 30. April 1983 gewährt. Zum 1. Mai 1983 verpachtete der Kläger seinen Betrieb an den Landwirt C. Nachdem dieser den Betrieb im Herbst 1987 zurückgegeben hatte, verpachtete der Kläger den Betrieb am 12. September 1987 an den Landwirt de B. Dieser gab den Betrieb am 1. April 1992 wieder an den Kläger zurück.

Die Menge der vom Betrieb an die jeweilige Molkerei gelieferten Milch betrug im Jahre 1981 220.489 kg, im Jahre 1982 200.625 kg und im Jahre 1983 bis zum 30. April 55.621 kg (R.) und ab 1. Mai 32.666 kg (C.).

Bemühungen des Klägers um Zuteilung einer besonderen Referenzmenge blieben im Verwaltungswege erfolglos.

Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger vorgetragen: Sein Hof eigne sich nur für die Haltung von Milchvieh. Dementsprechend habe der Pächter R. auch Milchvieh gehalten. Nachdem der Pachtvertrag jedoch gekündigt und vom Landwirtschaftsgericht bis zum 30. April 1983 verlängert worden sei, habe der Pächter R. den Hof nicht mehr ordnungsgemäß bewirtschaftet. Der neue Pächter habe nicht sogleich nach der Hofübernahme zum 1. Mai 1983 eine der Hofgröße entsprechende Milchmenge erzeugen können. Er habe seinen Bestand an frischmelkenden Kühen aus eigener Nachzucht langsam auf mindestens 60 Kühe aufstocken wollen. Für diesbezügliche Investitionen habe er ca. 150.000 DM ausgegeben. Die Milchkontingentierung ab April 1984 habe ihn, den Kläger, völlig überrascht. Aufgrund der geringen eigenen Anlieferung des neuen Pächters im Jahre 1983/84 und unter Außerachtlassung der vom Vorpächter R. erzeugten Milchmenge sei die Referenzmenge auf nur 41.700 kg festgesetzt worden. Damit sei der Hof nicht wirtschaftlich zu führen.

Mit Gerichtsbescheid vom 12. Februar 1988 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und beantragt,

den angefochtenen Gerichtsbescheid zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verpflichten,

  1. ihm zu bescheinigen, daß ihm eine Anlieferungs-Referenzmenge unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Milchleistung der Jahre 1981 und 1982 für seinen Betrieb zusteht,
  2. ihm nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 MGV zu bescheinigen, daß von dem Pächter R. auf ihn bzw. die Pächter seines landwirtschaftlichen Betriebes als Milcherzeuger zum 2. April 1984 eine Anlieferungs-Referenzmenge nach einer Anlieferungs-Milchmenge von 220.489 kg unter Berücksichtigung der Milchlieferung im Jahre 1981 übergegangen ist,
  3. hilfsweise,

    ihm zu bescheinigen, daß von dem Pächter R. auf ihn bzw. die Pächter seines landwirtschaftlichen Betriebes als Milcherzeuger zum 2. April 1984 eine Anlieferungs-Referenzmenge nach einer Anlieferungs-Milchmenge von weiteren 55.621 kg übergegangen ist.

Durch Beschluß vom 11. Mai 1989 hat das Berufungsgericht das Verfahren ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs eingeholt. Die ihm vorgelegten Fragen hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 10. Januar 1992 – Rs C-177/90 – wie folgt beantwortet:

1. Die Verordnung (EWG) Nr. 857/84 … schließt es aus, daß ein Erzeuger, der in dem vom betreffenden Mitgliedstaat gewählten Referenzjahr begonnen hat, Milch zu liefern, und der deshalb in diesem Jahr keine repräsentative Liefermenge vorweisen kann, allein aus diesem Grunde die Berücksichtigung eines anderen Referenzjahres erwirken kann. Die Prüfung der ersten Frage des vorlegenden Gerichts hat nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser so ausgelegten Verordnung beeinträchtigen könnte.

2. Art. 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung Nr. 857/84 … ist so auszulegen, daß er die Mitgliedstaaten ermächtigt, aber nicht verpflichtet, einem Pächter, der einen Betrieb vor dem Inkrafttreten der Zusatzabgabenregelung übernommen hat, eine Referenzmenge zuzuteilen, in der die Milchlieferungen berücksichtigt sind, die der Vorpächter dieses Betriebes im Referenzjahr erbracht hat.

Mit Urteil vom 14. Mai 1992 hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Anträge zu 1 und 2 müßten ohne Erfolg bleiben, weil der vom Kläger vorgetragene Sachverhalt kein außergewöhnliches Ereignis im Sinne der einschlägigen EG-Verordnungen begründe, so daß der Kläger kein anderes Kalenderreferenzjahr innerhalb des Zeitraums zwischen 1981 und 1983 erwirken könne.

Aber auch mit dem Antrag zu 3 könne der Kläger nicht durchdringen. Die einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ließen zwar erkennen, daß die Referenzmenge im Fall der Verpachtung eines Betriebes nach Ablauf des Pachtverhältnisses grundsätzlich dem Verpächter zukommen solle, vorbehaltlich der Befugnis der Mitgliedstaaten, die Referenzmenge ganz oder zum Teil dem ausscheidenden Pächter zuzuteilen; diese Bestimmungen beträfen aber nur den Fall des Betriebsübergangs nach Inkrafttreten der Zusatzabgabenregelung. Betriebsübergänge, die – wie hier – vor dem Inkrafttreten der Zusatzabgabenregelung erfolgt seien, führten nur dann zu einer Übertragung der entsprechenden Referenzmenge, wenn der betreffende Mitgliedstaat dies in Ausübung der Ermächtigung in Art. 5 Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 1371/84 vorgesehen habe. Das aber sei in der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 7 Abs. 1 MGV lediglich für Übertragungsfälle zwischen Verwandten und Ehegatten geschehen.

Diese Regelung sei allerdings verfassungswidrig wegen Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG; zur Begründung hat das Berufungsgericht auf sein Urteil vom 6. Februar 1992 in der Parallelsache J. (s. BVerwG 3 C 12.92 und 3 C 28.96) Bezug genommen. Die rechtliche Folge dieser Verfassungswidrigkeit sei die Nichtigkeit der Übertragungsregelung und nicht etwa die Anwendung dieser Regelung auf alle Übertragungsfälle schlechthin, die in der Zeit vom 1. Januar 1983 bis zum 1. April 1984 stattgefunden hätten. Es sei allein Sache des nationalen Verordnungsgebers, im Rahmen der ihm zustehenden Gestaltungsfreiheit zu entscheiden, ob nunmehr alle Fälle eines Flächenübergangs innerhalb des umstrittenen Zeitraums Auswirkungen auf die Referenzmenge des Übernehmers der Flächen haben sollen oder ob Übergangsfälle innerhalb dieses Zeitraums in keinem Fall mehr beachtlich sein sollen.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat der erkennende Senat die Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, gegen sein Urteil die Revision nicht zuzulassen, insoweit aufgehoben, als sich die Nichtzulassung auf die Abweisung des Hilfsantrags erstreckt und die Revision insoweit zugelassen; im übrigen hat der Senat die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Mai 1992 und den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 12. Februar 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm zu bescheinigen, daß auf ihn die einer Anlieferungsmilchmenge von 55.621 kg entsprechende Referenzmenge zum 1. April 1992 von dem Pächter R. über die Pächter C. und de B. übergegangen ist.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt zur Begründung vor, § 7 Abs. 1 MGV sei mit höherrangigem Recht vereinbar. Die Nichteinbeziehung des Klägers in den Kreis der Begünstigten verstoße nicht gegen das Grundgesetz. Es liege keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte und auch keine verfassungswidrige Lücke wegen unzureichender Berücksichtigung von Härtefällen vor.

Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren.

Aufgrund mündlicher Verhandlung am 7. Dezember 1995 hat der erkennende Senat mit Beschluß vom gleichen Tag das Verfahren ausgesetzt und dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes im Hinblick auf das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 14. Dezember 1993 (BFH VII R 113/92) die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 7 Abs. 1 Milch-Garantiemengen-Verordnung (a.F.) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als er im Falle eines Betriebsübergangs zwischen dem 1. Januar 1983 und dem 1. April 1984 eine Berücksichtigung der vom früheren Betriebsleiter im Referenzjahr angelieferten Milch oder Milchprodukte nur unter den dort genannten Voraussetzungen zuläßt.

Der Vorsitzende des Gemeinsamen Senats hat das bei ihm eingeleitete Verfahren am 28. Mai 1996 gemäß § 14 Satz 1 RsprEinhG eingestellt, nachdem der VII. Senat des Bundesfinanzhofs am 14. Mai 1996 folgenden Beschluß gefaßt hatte:

Der Senat schließt sich der Auffassung des vorlegenden 3. Senats des Bundesverwaltungsgerichts an, daß § 7 Abs. 1 der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGV) a.F. insoweit nicht mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist, als er im Falle eines Betriebsübergangs zwischen dem 1. Januar 1983 und dem 1. April 1984 eine Berücksichtigung der vom früheren Betriebsleiter im Referenzjahr angelieferten Milch oder Milchprodukte nur unter den dort genannten Voraussetzungen zuläßt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision, über die mit dem erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet. Sie führt zur Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger die im Revisionsverfahren begehrte Referenzmenge zu bescheinigen und zur Aufhebung der in dieser Sache zuvor ergangenen gerichtlichen und behördlichen Bescheide, soweit sie diesem Anspruch entgegenstehen. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es beruht auf der Annahme, solange der nationale Verordnungsgeber keine normativen Konsequenzen aus der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 MGV (a.F.) gezogen habe, könne der zu Unrecht von der Begünstigung ausgeschlossene Personenkreis keine entsprechenden Ansprüche geltend machen. Dies trifft jedenfalls in Hinblick auf den Kläger nicht zu.

Der Anspruch des Klägers auf Ausstellung der begehrten Bescheinigung ist begründet. Er findet allerdings weder im einschlägigen Gemeinschaftsrecht, noch in der zu dessen Ausfüllung ergangenen Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGV) eine Stütze (a). Die Ausgrenzung von Personen wie dem Kläger durch § 7 Abs. 1 MGV verstößt aber gegen die Artikel 3 Abs. 1 und 14 Abs. 1 Grundgesetz (b). Der Gleichheitsverstoß kann wegen des zwischenzeitlichen Zeitablaufs nur noch durch Erstreckung der in der Verordnungsbestimmung enthaltenen Begünstigung auf die zu Unrecht ausgeschlossenen Personen geheilt werden (c).

a) Durch die vom Berufungsgericht herbeigeführte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist klargestellt worden, daß Personen in der Situation des Klägers einen Anspruch auf eine Referenzmenge unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht nicht herleiten können. Die einschlägigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ermächtigen zwar die Mitgliedstaaten, einem Pächter, der einen Betrieb vor Inkrafttreten der Zusatzabgabenregelung übernommen hat, eine Referenzmenge zuzuteilen, in der die Milchlieferungen berücksichtigt sind, die der Vorpächter dieses Betriebes im Referenzjahr erbracht hat; eine Verpflichtung hierzu besteht jedoch nicht.

Der deutsche Verordnungsgeber hat von der ihm in Art. 7 Abs. 1 und 4 VO (EWG) Nr. 857/84 i.d.F. der VO (EWG) Nr. 590/85 i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1371/84 eingeräumten Ermächtigung durch Erlaß des § 7 Abs. 1 MGV eingeschränkten Gebrauch gemacht. Diese durch die 1. Änderungsverordnung zur MGV geschaffene, durch die 2. Änderungsverordnung geringfügig veränderte und erst mit der 27. Änderungsverordnung vom 24. März 1993 außer Kraft gesetzte Regelung hatte folgenden Wortlaut:

Die in den in § 1 genannten Rechtsakten für den Übergang von Referenzmengen enthaltenen Bestimmungen sind bei Verpachtung und Verkauf des gesamten Betriebes oder von Teilen des Betriebes zwischen Verwandten oder Ehegatten, bei Hofübergabe im Wege der vorweggenommenen Erbfolge und bei Übergang der Nutzung des Betriebes oder von Teilen des Betriebes im Wege gesetzlicher Erbfolge oder auf Grund einer Verfügung von Todes wegen auch anzuwenden, wenn der Übergang in der Zeit vom 1. Januar 1983 bis zum 1. April 1984 stattgefunden hat.

Die Bestimmung besagt, daß der im Gemeinschaftsrecht ab Inkrafttreten der Zusatzabgabenregelung vorgeschriebene Referenzmengenübergang im Gefolge der Übertragung von Betrieben oder Betriebsteilen zu Gunsten des dort bezeichneten Personenkreises ausnahmsweise auch dann eintritt, wenn die Übertragung bereits in dem genannten Zeitraum erfolgt ist.

Der Kläger hat seinen Betrieb zwar in dem in § 7 Abs. 1 MGV vorgesehen Zeitraum verpachtet, er erfüllt aber keine der übrigen dort genannten Voraussetzungen. Wegen der vom Verordnungsgeber erkennbar beabsichtigten Exklusivität der Regelung und des insoweit eindeutigen Wortlauts scheiden die Auslegungsmethoden der Analogie oder der verfassungskonformen Auslegung aus.

b) Die Begünstigung des von § 7 Abs. 1 MGV erfaßten Personenkreises gegenüber Verpächtern wie dem Kläger verstößt gegen das Gleichheitsgebot des Artikels 3 Abs. 1 GG. Die Unterscheidungsmerkmale, auf die in der Verordnung abgehoben wird und denen in wirtschaftlicher Hinsicht eine große Bedeutung zukommt, sind nicht sachgerecht. Die Vorenthaltung einer Referenzmenge stellt sich darüber hinaus als Vermarktungsverbot dar, durch das die Nutzung des Eigentums des Klägers in unzumutbarer Weise beeinträchtigt wird. Die Gründe hierfür hat der Senat in seinem Vorlagebeschluß vom 7. Dezember 1995 (BVerwG 3 C 29.93 i.V.m. 3 C 12.92) ausführlich dargelegt. Hierauf wird Bezug genommen.

c) Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Begünstigungsausschlusses des Klägers führt nicht zur Aussetzung des Verfahrens. Die Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG scheidet aus, weil die für ungültig gehaltene Norm nicht, wie es hierfür erforderlich wäre, in einem förmlichen Gesetz enthalten ist. Die gerichtliche Kontrolle der Exekutive, auch soweit sie rechtsetzend tätig wird, ist Aufgabe der Verwaltungsgerichte (BVerfGE 68, 319, 325 f.; BVerwGE 80, 355, 358). Auch eine Aussetzung bis zu einer verfassungskonformen Änderung der Milch-Garantiemengen-Verordnung kommt nicht in Betracht, weil der Verordnungsgeber zur Vornahme einer Änderung nicht verpflichtet werden kann. Eine solche verfassungsrechtliche Pflicht besteht zwar zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 15, 46, 76 f.), nicht aber zwischen dem Verordnungsgeber und den Fachgerichten.

Der Anspruch des Klägers ist begründet und ist von der Beklagten trotz Fehlens einer hierauf abzielenden Rechtsvorschrift zu erfüllen. Das Berufungsgericht hat sich gehindert gesehen, in diesem Sinne zu entscheiden, weil die Judikative damit – seiner Meinung nach – in den Gestaltungsfreiraum der Legislative eingreifen würde. Richtig ist, daß es einem Gericht im allgemeinen verwehrt ist, im Rahmen eines bei ihm anhängigen Verfahrens vom Bestehen einer Norm, die dem Normsetzungsanspruch des klagenden Bürgers genügt, auszugehen, um ein Unterlassen des Verordnungsgebers dadurch zu korrigieren (vgl. Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, 1979 S. 175 f.; ders.: Rechtsschutz gegen das Unterlassen von Rechtsnormen, VerwArch 1991, Bd. 82 S. 318 f.). Dies würde einen Eingriff in die Prärogative des Normgebers bedeuten, dem allein die Entscheidung darüber gebührt, ob und aufweiche Weise die Regelung der Verfassungslage anzupassen ist. Diese Entscheidungsfreiheit ist eine Ausprägung des auch für Rechtsetzungsakte der Exekutive typischerweise geltenden normativen Ermessens (BVerwGE 80, 355, 370). Das Berufungsgericht hat jedoch verkannt, daß das Gewaltenteilungsprinzip der individuellen gerichtlichen Zuerkennung eines vom Verordnungsgeber versagten Anspruchs dann nicht entgegensteht, wenn die ausstehende generell-abstrakte Regelung nur dann verfassungsgerecht wäre, wenn sie solche Ansprüche vorsähe. Dies ist hier der Fall.

Hat der Verordnungsgeber nur eine einzige Möglichkeit zur Schaffung eines der Verfassung entsprechenden Rechtszustandes, so dürfen die Verwaltungsgerichte die noch ausstehende Norm gleichsam antizipieren und zur Grundlage ihrer den Anspruch zusprechenden Entscheidung machen. Der Eingriff in den Kompetenzbereich der Legislative geht in Fällen dieser Art nicht über die unstreitig zulässige Nichtigerklärung und damit Nichtanwendung von Begünstigungsausschlußklauseln oder anderen belastenden Teilregelungen hinaus. Die Reichweite richterlicher Befugnisse – und somit der Rechtsschutzgewährung – kann vernünftigerweise nicht von der gesetzestechnischen Ausgestaltung einer Norm abhängen. Auch das Bundesverfassungsgericht hält eine Erstreckung gesetzlicher Regelungen auf zu Unrecht ausgeschlossene Personengruppen für zulässig, wenn der Gesetzgeber nur durch deren Einbeziehung den Verfassungsverstoß ausräumen könnte (BVerfGE 18, 288, 300; 55, 100, 113 f.). Ebenso verfährt das Bundesarbeitsgericht: In ständiger Rechtsprechung gewährt es den durch gleichheitswidrige tarifvertragliche Regelungen ausgeklammerten Personen einen Anspruch auf die Vergünstigung, wenn der Normgeber nur auf diesem Weg dem Gleichheitssatz Rechnnung tragen kann (vgl. Urteile vom 13. November 1985 – 4 AZR 234/84 –, BAGE 50, 137, 145 f. und vom 7. März 1995 – 3 AZR 282/94 –).

In Hinblick auf § 7 Abs. 1 MGV beschränkt sich die Abhilfemöglichkeit des Verordnungsgebers auf die Erstreckung der dort vorgesehenen Vergünstigung auf Personen wie den Kläger. Zwölf Jahre nach Einführung der Bestimmung kann eine Gleichbehandlung nicht mehr in der Weise erfolgen, daß diese – für sich genommen nicht zu beanstandende – Rechtswohltat auch den in § 7 Abs. 1 MGV aufgeführten Personen entzogen wird (vgl. BAG, Urteil vom 7. März 1995). Ein solcher Eingriff in abgeschlossene Tatbestände durch eine sich Rückwirkung beilegende Verordnung wäre mit den Geboten der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unvereinbar (vgl. BVerfGE 11, 139, 145 f.; 27, 375, 385; 30, 392, 401). Auch eine Rücknahme der den Begünstigten erteilten Referenzmengenbescheide scheidet aus Vertrauensschutzgründen aus (vgl. § 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG). Bleibt die Zielgruppe des § 7 Abs. 1 MGV aber im Genuß ihrer Referenzmenge, so kann eine Gleichstellung der bisher unter Verstoß gegen Art. 3 GG Ausgeschlossenen nur durch deren Einbeziehung in diese Regelung erfolgen. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann der Verordnungsgeber unter diesen Umständen nicht mehr frei darüber entscheiden, ob nunmehr alle Fälle von Betriebsübergängen in der fraglichen Zeit begünstigt werden sollen oder gar keine.

Die Erstreckung des § 7 Abs. 1 MGV in der dargelegten Weise führt zur Begründetheit des Klageanspruchs und der Revision. Gelten nämlich zugunsten des Klägers die den Übergang von Referenzmengen regelnden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts auch hinsichtlich der im Jahre 1983 erfolgten Betriebsübergänge, so ist mit der Rückgabe des Betriebes durch den Pächter R. dessen einer Anlieferungsmilchmenge von 55.621 kg entsprechende Referenzmenge auf den Pächter C., von diesem auf den Pächter de B. und am 1. April 1992 schließlich auf den Kläger übergegangen (vgl. Art. 7 Abs. 1 VO – EWG – Nr. 1546/88 und die entsprechenden Vorläuferverordnungen).

Die Kostenentscheidung beruht auf den § 154 Abs. 1 i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

 

Unterschriften

Dr. Dickersbach, Sommer, Dr. Pagenkopf, Dr. Borgs-Maciejewski, Kimmel

 

Fundstellen

Haufe-Index 1497452

BVerwGE, 113

BVerwGE: ja

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